Harry Bosch 07 - Dunkler als die Nacht
Er nahm ein leeres Blatt Schreibmaschinenpapier aus einer Schublade und schrieb mit dem dicken schwarzen Marker, mit dem er die Kartons mit seinen alten Akten beschriftete:
SIE HABEN IRGENDWAS ÜBERSEHEN
Er riss von dem Spender auf dem Schreibtisch ein Stück Klebstreifen ab und befestigte das Blatt damit an der Wand hinter dem Schreibtisch. Dann starrte er lang darauf. Alles, was Bosch zu ihm gesagt hatte, lief auf diesen einen Satz hinaus. Er musste jetzt entscheiden, ob es stimmte und ob es möglich war. Oder ob es das letzte Ablenkungsmanöver eines Verzweifelten war.
Er hörte, wie sein Handy zu trällern begann. Es war in der Tasche seiner Jacke, die er auf der Couch in der Kajüte gelassen hatte. Er hetzte die Treppe hinauf und griff nach der Jacke. Als er in die Tasche fasste, bekam seine Hand die Glock zu fassen. Dann versuchte er es in der anderen Tasche und fand das Telefon. Es war Graciela.
»Wir sind wieder zu Hause«, sagte sie. »Ich dachte, du würdest hier sein. Ich dachte, wir könnten vielleicht ins El Encanto zum Mittagessen gehen.«
»Äh …«
Im Moment wollte McCaleb das Büro und seine Gedanken an Bosch nicht verlassen. Aber die letzte Woche hatte sein Verhältnis zu Graciela ziemlich belastet. Er musste mit ihr darüber sprechen, über die Veränderungen, die sich für ihn abzuzeichnen begannen.
»Weißt du was?«, sagte er schließlich. »Ich erledige hier noch Verschiedenes. Komm doch mit den Kindern schon nach unten. Wir treffen uns dann im El Encanto.«
Er sah auf die Uhr. Es war Viertel vor eins.
»Ist halb zwei zu spät?«
»Okay«, sagte sie abrupt. »Was musst du noch erledigen?«
»Ach, es ist nur … Ich mache für Jaye noch alles fertig.«
»Hast du nicht gesagt, du hättest nichts mehr mit der ganzen Sache zu tun?«
»Schon, aber ich habe noch die ganzen Berichte hier und ich wollte meinen Abschlussbericht … du weißt schon, das Ganze einfach zum Abschluss bringen.«
»Komm nicht zu spät, Terry.«
Der Ton, in dem sie das sagte, ließ keinen Zweifel daran, dass ihm andernfalls mehr entgehen würde als sein Mittagessen.
»Keine Sorge. Bis gleich.«
Er machte das Telefon aus und ging nach unten ins Büro. Er sah wieder auf die Uhr. Ihm blieb noch etwa eine halbe Stunde, bevor er mit dem Schlauchboot an Land fahren musste. Zu Fuß waren es vom Hafen etwa fünf Minuten zum El Encanto. Es war eins der wenigen Restaurants auf der Insel, das auch in den Wintermonaten offen hatte.
Er setzte sich an den Schreibtisch und begann, die Ermittlungsunterlagen zu ordnen. Das war nicht schwierig. In der rechten oberen Ecke jeder Seite war ein Stempel mit dem Datum. Doch McCaleb hatte kaum damit angefangen, als er innehielt und zu dem Zettel aufblickte, den er an der Wand befestigt hatte. Wenn er nach etwas suchte, was ihm bisher entgangen war, sollte er aus einem anderen Blickwinkel an die Informationen herangehen. Deshalb beschloss er, die Dokumente nicht in die richtige Reihenfolge zu bringen, sondern sie in der willkürlichen Anordnung zu studieren, in der sie sich jetzt befanden. Wenn er so vorging, ließ sich besser vermeiden, dass er ständig an den Ablauf der Ermittlungen dachte und wie ein Schritt auf den anderen folgte. Er würde einfach jeden Bericht als Teil eines Puzzles betrachten. Das war ein ganz simpler Trick, der sich schon bei der Lösung einiger seiner FBI-Fälle als äußerst nützlich erwiesen hatte. Manchmal purzelte dann etwas Neues heraus, etwas, das er bis dahin übersehen hatte.
Er sah wieder auf die Uhr und begann mit dem obersten Dokument des Stapels. Es war der Obduktionsbefund.
32
R asch schritt McCaleb auf die Eingangstreppe des El Encanto zu. Am Straßenrand sah er seinen Golfcart stehen. Die meisten dieser kleinen Wagen, die es auf der Insel gab, sahen gleich aus, aber seinen erkannte er an dem Babysitz mit der rosa-weißen Polsterung. Seine Familie war noch hier.
Er ging die Treppe hinauf und die Bedienung, die ihn als Einheimischen kannte, deutete auf den Tisch, an dem seine Familie saß. Er eilte darauf zu und zog den Stuhl neben Graciela heraus. Sie waren fast fertig mit dem Essen. Er sah, dass die Rechnung bereits auf dem Tisch lag.
»Tut mir Leid, dass ich zu spät bin.«
Er nahm einen Chip aus dem Korb in der Mitte des Tisches und tunkte ihn in die Schalen mit Salsa und Guacamole, bevor er ihn sich in den Mund schob. Graciela sah auf die Uhr, dann durchbohrte sie ihn mit ihren dunkelbraunen Augen. Er hielt ihrem Blick stand und
Weitere Kostenlose Bücher