Harry Bosch 07 - Dunkler als die Nacht
er zum Beispiel auf einer Silvesterfeier erschien, damit mehrere Personen seine Anwesenheit zum Todeszeitpunkt seines Opfers bezeugen konnten.
Dann fiel ihm der Eimer ein und er gelangte zu der Überzeugung, dass der Mörder geblieben sein musste. Bei Morden aus Wut oder sexuellen Motiven kam es häufig vor, dass der Mörder das Gesicht des Opfers verdeckte, um es zu entmenschlichen und den Blickkontakt mit ihm zu vermeiden. McCaleb hatte Dutzende von Fällen bearbeitet, in denen er dieses Phänomen festgestellt hatte: Frauen, die mit einem Nachthemd oder Kopfkissenbezug über dem Gesicht vergewaltigt und ermordet worden waren; Kinder, deren Köpfe in ein Handtuch gewickelt waren. Er hätte eine Liste mit Beispielen aufstellen können, die das ganze Notizbuch gefüllt hätte. Stattdessen schrieb er eine Zeile unter Boschs Namen.
Unb. Tät. war die ganze Zeit dabei. Er hat zugesehen.
Der unbekannte Täter, dachte McCaleb. Begegnen wir uns also wieder.
* * *
Bevor er weitermachte, sah McCaleb den Obduktionsbefund nach zwei weiteren Punkten durch. Der erste war die Kopfverletzung. Eine Beschreibung der Wunde fand er im Kommentar des Gerichtsmediziners. Die perimortale Lazeration war kreisförmig und oberflächlich. Sie hatte minimalen Schaden angerichtet und war vermutlich eine Abwehrverletzung.
McCaleb teilte nicht die Ansicht, dass es sich um eine Abwehrverletzung handelte. Das einzige Blut auf dem Teppich am Tatort war aus dem Eimer gekommen, nachdem dieser dem Opfer über den Kopf gestülpt worden war. Außerdem war das Blut aus der Kopfwunde nach vorn und über das Gesicht des Opfers gelaufen. Das deutete darauf hin, dass sein Kopf nach vorn geneigt gewesen war. Aus all dem schloss McCaleb, dass Gunn bereits gefesselt auf dem Boden gelegen hatte, als er den Schlag auf den Kopf bekommen hatte, und dass ihm der Eimer erst danach übergestülpt worden war. Sein Instinkt sagte McCaleb, der Schlag könnte Gunn beigebracht worden sein, um seinen Tod zu beschleunigen; ein Schlag auf den Kopf, der das Opfer schwächen und seinen Kampf gegen die Schlinge verkürzen sollte.
Nachdem McCaleb diese Überlegungen in das Notizbuch eingetragen hatte, wandte er sich wieder dem Obduktionsbefund zu. Er fand die Ergebnisse der Untersuchung von Anus und Penis. Abstriche ergaben, dass es bis zum Todeszeitpunkt zu keinerlei sexuellen Handlungen gekommen war. McCaleb schrieb Kein Sex in das Notizbuch. Darunter schrieb er das Wort Wut und kreiste es ein.
McCaleb merkte, dass viele, wenn nicht alle, Vermutungen und Schlüsse, die er zog, auch Jaye Winston schon gezogen hatte. Aber so war er bei der Analyse von Mordtatorten schon immer vorgegangen. Zuerst versuchte er, sich selbst eine Meinung zu bilden, und erst dann verglich er seine Eindrücke mit denen des ursprünglichen Ermittlers.
Nach dem Obduktionsbefund wandte er sich den Analysen der Beweisstücke zu. Bei der Durchsicht der Liste der konfiszierten Beweisstücke stellte er fest, dass die Plastikeule, die er auf dem Video gesehen hatte, nicht darauf enthalten war. Er fand, sie hätte unbedingt einbehalten werden sollen, und machte sich einen entsprechenden Vermerk. Des weiteren fehlte auf der Liste jeder Hinweis auf eine Waffe. Wie es schien, hatte der Mörder den Gegenstand, mit dem Gunn die Kopfverletzung beigebracht worden war, vom Tatort entfernt. Auch darüber machte sich McCaleb einen Vermerk, da es sich hier um ein weiteres Detail handelte, das auf einen vorsichtigen sowie sehr systematisch und gründlich vorgehenden Täter hindeutete.
Die Ergebnisse der Analyse des Klebebands, mit dem das Opfer geknebelt worden war, befanden sich in einem separaten Umschlag, den McCaleb in einem der Fächer des Ordners fand. Neben einem Computerausdruck und einem Nachtrag enthielt er mehrere Fotografien, auf denen das Band in voller Länge zu sehen war, nachdem es vom Gesicht und Kopf des Opfers entfernt worden war. Die erste Fotoserie dokumentierte Vorder- und Rückseite des Klebebands so, wie es vorgefunden worden war; die darauf geschriebene Nachricht war durch eine beträchtliche Menge geronnenen Blutes unkenntlich gemacht. Die nächste Fotoserie zeigte Vorder- und Rückseite des Klebebands, nachdem das Blut mit einer Seifenlösung entfernt worden war. McCaleb starrte lange auf die Buchstabenfolge, obwohl er wusste, dass er sie allein nicht entziffern könnte.
Cave Cave Dus Videt
Schließlich legte er die Fotos beiseite und griff nach den begleitenden Berichten. Wie sich
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