Harry Bosch 07 - Dunkler als die Nacht
gestellt bekommen hatten, zu kennen.
Die Detectives durchstöberten die einschlägigen Alternativblättchen nach einer Kontaktanzeige, die Gunn dort vielleicht aufgegeben hatte. Wieder blieben ihre Bemühungen ohne Erfolg.
Schließlich machten sich die Detectives sogar die Mühe, die Angehörigen und Bekannten der Prostituierten ausfindig zu machen, die Gunn vor sechs Jahren umgebracht hatte. Auch wenn Gunn nie des Mordes an der Frau angeklagt worden war, bestand dennoch die Möglichkeit, dass jemand glaubte, Gunn habe nicht in Notwehr gehandelt – jemand, der vielleicht auf Rache sann.
Aber auch das erwies sich als eine Sackgasse. Die Ermordete stammte aus Philadelphia. Ihre Familie hatte schon Jahre zuvor keinen Kontakt mehr mit ihr gehabt. Es hatte sich nicht einmal ein Familienmitglied gemeldet, um die Herausgabe ihrer Leiche zu beantragen, bevor diese auf Kosten der Steuerzahler eingeäschert wurde. Es gab keinen Grund, weshalb sie nach sechs Jahren einen Mord hätten rächen sollen, der sie schon nicht groß interessiert hatte, als er geschehen war.
Die Ermittlungen waren in eine Sackgasse nach der anderen geraten. Wurde ein Fall nicht in den ersten 48 Stunden gelöst, war die Wahrscheinlichkeit, dass die Tat dann noch aufgeklärt werden konnte, geringer als 50 Prozent. Ein Mord, der zwei Wochen unaufgeklärt blieb, war wie ein Toter im Leichenschauhaus, den niemand haben wollte – er würde noch sehr, sehr lange in der Kälte und im Dunkeln liegen.
Und deshalb war Winston schließlich zu McCaleb gekommen. Er war ihre letzte Zuflucht in einem hoffnungslosen Fall.
Als er mit den Resümees fertig war, beschloss McCaleb, eine Pause zu machen. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass es fast zwei Uhr war. Er öffnete die Kabinentür und ging in die Kajüte hinauf. Die Lichter waren aus. Anscheinend war Buddy in der großen Kabine schlafen gegangen, ohne ein Geräusch zu machen. McCaleb öffnete die Kühlbox und sah hinein. Von der letzten Tour war noch ein Sechserpack Bier übrig, aber darauf hatte er jetzt keine Lust. Es gab auch noch einen Karton Orangensaft und etwas Wasser in einer Flasche. Er nahm das Wasser und ging durch die Kajütentür ins Cockpit hinaus. Auf dem Wasser war es immer frisch, aber diese Nacht schien kühler als sonst. Er verschränkte die Arme über der Brust und blickte über den Hafen hinweg zu dem Haus hinauf, in dem seine Familie schlief. Nur auf der hinteren Veranda brannte ein einsames Licht.
Einen Moment bekam er ein schlechtes Gewissen. Ihm war bewusst, dass er trotz der tiefen Liebe, die er für die Frau und die zwei Kinder hinter diesem Licht empfand, lieber mit der Mordakte auf dem Boot war als dort oben in dem schlafenden Haus. Er versuchte zwar, sich diese Gedanken und die von ihnen aufgeworfenen Fragen aus dem Kopf zu schlagen, konnte aber dennoch die Augen nicht ganz vor der tiefgreifenden Einsicht verschließen, dass etwas nicht mit ihm stimmte, dass ihm etwas fehlte, und zwar etwas, das ihn daran hinderte, sich uneingeschränkt auf das einzulassen, wonach sich die meisten Männer zu sehnen schienen.
Er ging in die Kajüte zurück. Er wusste, die Beschäftigung mit den Polizeiunterlagen würde ihm die Schuldgefühle vom Leib halten.
* * *
Der Obduktionsbefund barg keine Überraschungen. Die Todesursache war, wie McCaleb bereits aufgrund des Videos vermutet hatte, Sauerstoffmangel im Gehirn, hervorgerufen durch ein Zusammendrücken der Halsschlagadern mittels Schnürstrangulation. Der Todeszeitpunkt war der erste Januar zwischen null und drei Uhr.
Der Gerichtsmediziner, der die Obduktion durchgeführt hatte, wies darauf hin, dass die inneren Verletzungen am Hals minimal waren. Weder das Zungenbein noch der Schildknorpel waren gebrochen. Zusammen mit den zahlreichen Einkerbungen in der Haut hatte dieser Umstand den Arzt zu dem Schluss geführt, dass Gunn langsam erstickt war, während er verzweifelt versucht hatte, die Füße hinter seinen Oberkörper zu biegen, damit die Drahtschlinge um seinen Hals nicht zugezogen würde. Im Schlussresümee des Obduktionsbefunds stand, das Opfer könnte in dieser Haltung bis zu zwei Stunden um sein Leben gekämpft haben.
Angesichts dessen fragte sich McCaleb, ob der Mörder die ganze Zeit in der Wohnung geblieben war und den Todeskampf des Opfers beobachtet hatte. Oder ob er sie, nachdem er die Schlinge angebracht hatte, schon vor dem Tod seines Opfers verlassen hatte – möglicherweise, um sich ein Alibi zu verschaffen, indem
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