Harry Bosch 09 - Letzte Warnung
konzentrieren. Ich ging im Kopf noch einmal die jüngsten Vorkommnisse durch und versuchte, sie in einen vernünftigen Zusammenhang zu bringen. Warum hatte sich das FBI eingeschaltet? Weil ich mir eine Kopie von Lawton Cross' Akte besorgt hatte? Das erschien mir ziemlich unwahrscheinlich. Ich war wohl auf einen wunden Punkt gestoßen, als ich mir in der Bibliothek die Artikel über Mousouwa Aziz angesehen hatte. Sie hatten mit der Bibliothekarin gesprochen oder den Computer überprüft – neue Gesetze erlaubten ihnen das. Das war es, was sie auf den Plan gerufen hatte. Das war, worüber sie Bescheid wissen wollten.
Nachdem ich schätzungsweise vier Stunden im Bunker gesessen hatte, schnappte der elektronische Schließmechanismus der Tür auf. Gerade als ich mir das Sakko vom Gesicht zog, kam ein Agent herein, den ich bis dahin noch nicht gesehen hatte. Er hatte einen Aktenordner und einen Becher Kaffee dabei. Der Agent, den ich Parenting Today getauft hatte, stand mit einem Metallstuhl hinter ihm.
»Nicht aufstehen«, sagte der erste Agent.
Ich stand trotzdem auf.
»Was zum Teufel soll dieser …«
»Ich sagte, Sie sollen nicht aufstehen. Setzen Sie sich sofort wieder, oder ich gehe, und wir versuchen es morgen noch mal.«
Ich zögerte kurz und behielt die Pose des Entrüsteten bei, aber dann setzte ich mich doch wieder auf die Matratze. Parenting Today stellte den Stuhl direkt an der Tür ab, dann verließ er die Zelle und schloss die Tür. Der zurückgebliebene Agent setzte sich und stellte seinen dampfenden Kaffee auf den Boden. Sein Aroma füllte den Raum.
»Ich bin Special Agent John Peoples vom Federal Bureau of Investigation.«
»Schön für Sie. Wieso bin ich hier?«
»Sie sind hier, weil Sie nicht hören wollen.«
Um sicherzugehen, dass ich nicht irgendetwas Dummes machte, sah er mir in die Augen. Er war in meinem Alter, vielleicht etwas älter. Er hatte noch alle Haare, und sie waren für FBI-Verhältnisse etwas zu lang. Ich nahm nicht an, dass dahinter eine bewusste modische Entscheidung steckte. Er hatte einfach zu viel um die Ohren, um zum Friseur zu gehen.
Das Besondere an ihm waren die Augen. Jedes Gesicht hat ein magnetisches Merkmal, etwas, das sofort die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Eine Nase, eine Narbe, ein Grübchen am Kinn. Bei Peoples waren es die Augen. Sie waren tief gelegen und dunkel. Sie waren bedrückt. Sie trugen eine geheime Bürde.
»Man hat Ihnen gesagt, Sie sollten sich da raushalten, Mr Bosch«, sagte er. »Man hat Ihnen ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, Ihre Finger von dieser Sache zu lassen, und dennoch sind wir jetzt hier.«
»Können Sie mir eine Frage beantworten?«
»Ich kann es versuchen. Wenn es nichts ist, was der Geheimhaltung unterliegt.«
»Unterliegt meine Uhr der Geheimhaltung? Wo ist meine Uhr? Ich bekam sie bei meiner Abschiedsfeier geschenkt, und ich will sie zurückhaben.«
»Mr Bosch, können wir Ihre Uhr vielleicht erst einmal beiseite lassen. Ich versuche, etwas in Ihren Dickschädel hineinzukriegen, aber Sie wollen es einfach nicht an sich ranlassen, habe ich Recht?«
Er hob seinen Kaffeebecher vom Boden und nahm einen Schluck daraus. Er verzog das Gesicht, als er sich den Mund verbrannte. Er stellte den Becher wieder auf den Boden.
»Hier geht es um wichtigere Dinge als Ihre privaten Ermittlungen und eine Hundert-Dollar-Uhr, die Ihnen die Kollegen zum Abschied geschenkt haben.«
Ich machte ein überraschtes Gesicht.
»Glauben Sie im Ernst, das ist alles, was sie nach so langer Zeit für mich ausgegeben haben?«
Peoples runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Sie tun sich hier keinen Gefallen, Mr Bosch. Sie kompromittieren ein Ermittlungsverfahren, das für dieses Land von lebenswichtiger Bedeutung ist, und das Einzige, was Sie zu interessieren scheint, ist zu zeigen, wie schlau Sie sind.«
»Soll das jetzt vielleicht die Nationale-Sicherheit-Leier werden? Das ist sie doch, oder? Dann kann ich Ihnen nur sagen, Special Agent Peoples, sparen Sie sich die mal für nächstes Mal auf. Ich halte Ermittlungen in einem Mordfall nicht für unwichtig. Wenn es um Mord geht, kenne ich keine Kompromisse.«
Peoples stand auf und kam auf mich zu, bis er von oben auf mich herabschaute. Er beugte sich über das Bett und stützte sich dabei mit der Hand an der Wand ab.
»Hieronymus Bosch«, brüllte er los, und er sprach es tatsächlich richtig aus. »Sie haben hier nichts zu suchen! Sie fahren auf einer Einbahnstraße in die falsche
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