Harry Bosch 09 - Letzte Warnung
Unterbrechung gekommen:
»Außerdem mag ich es, am Ende der Nacht ins Freie zu kommen und die Sonne aufgehen zu sehen. Das hat etwas wie … als wäre man einfach froh, wieder einen Tag überlebt zu haben oder so ähnlich.«
Im Bellagio gingen wir an den VIP-Schalter und holten eine Chipkarte ab, die auf Eleanors Namen hinterlegt worden war. So einfach war das. Sie brachte mich zum Lift, als wäre sie schon zigmal hier gewesen, und wir fuhren zu einer Suite im zwölften Stock hoch. Es war das schönste Hotelzimmer, das ich je gesehen hatte, mit einem Wohnzimmer und einem Schlafzimmer und mit Blick auf das Wahrzeichen des Hotelcasinos, die beleuchteten Fontänen in dem großen Becken vor dem Eingang.
»Sehr schön. Du scheinst ja wirklich gute Beziehungen zu haben.«
»Langsam werde ich bekannt. Ich spiele hier vier oder fünf Nächte die Woche, und das fängt an, Leute anzulocken. Leute, die um hohe Einsätze spielen und die gegen mich antreten wollen. Das wissen sie hier und wollen deshalb nicht, dass ich woanders spiele.«
Ich nickte und wandte mich ihr zu.
»Dann läuft es beruflich anscheinend recht gut für dich.«
»Ich kann nicht klagen.«
»Ich denke …«
Ich sprach nicht weiter. Sie kam auf mich zu und blieb vor mir stehen.
»Was denkst du?«
»Ich weiß nicht, was ich fragen wollte. Wahrscheinlich wollte ich wissen, was dir fehlt. Bist du gerade mit jemandem zusammen, Eleanor?«
Sie kam näher. Ich konnte ihren Atem spüren.
»Meinst du, ob ich in jemand anderen verliebt bin? Nein, Harry, bin ich nicht.«
Ich nickte, und bevor ich dazu kam, etwas zu sagen, sagte sie: »Glaubst du immer noch an diese Geschichte, die du mir mal erzählt hast? Diese Eine-Kugel-Theorie?«
Ich nickte ohne Zögern und sah ihr in die Augen. Sie beugte sich vor, den Kopf an meinem Kinn.
»Wie ist das bei dir?«, fragte ich. »Glaubst du immer noch an das, was dieser Dichter gesagt hat? Dass die Dinge im Herzen kein Ende haben?«
»Ja, das glaube ich. Immer.«
Ich hob mit der Hand ihr Kinn und küsste sie. Bald hatten wir die Arme um einander geschlungen, und ihre Hand war an meinem Nacken und zog mich an sie. Ich wusste, wir würden miteinander schlafen. Und einen Augenblick lang wusste ich, was es hieß, der größte Glückspilz in Las Vegas zu sein. Ich löste mich von ihren Lippen und drückte sie nur an meine Brust.
»Alles, was ich auf dieser Welt will, bist du«, flüsterte ich.
»Ich weiß«, flüsterte sie zurück.
31
Auf dem Rückflug nach Los Angeles versuchte ich mich wieder auf den Fall zu konzentrieren. Aber es war ein fruchtloses Unterfangen. Einen beträchtlichen Teil der Nacht hatte ich Eleanor dabei zugesehen, wie sie an einem Tisch unten im Pokerzimmer des Bellagio mehrere tausend Dollar gewann. Ich hatte ihr vorher nie länger beim Spielen zugesehen. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass sie den fünf Männern, gegen die sie spielte, die Hosen auszog, denn sie knöpfte ihnen mit Ausnahme von einem ihr ganzes Geld ab, und selbst der hatte am Ende nur noch ein einziges Häufchen Chips, als sie fünf Stapel von ihren einlöste. Sie spielte knallhart und eiskalt, und sie war ebenso beeindruckend wie sie geheimnisvoll und schön war. In meinem Beruf hatte ich gelernt, Menschen zu durchschauen. Trotzdem war sie absolut undurchschaubar für mich, wenn sie spielte. Soweit ich das erkennen konnte, gab sie beim Spielen absolut nichts über sich preis.
Aber als sie mit diesen Männern fertig war, war sie auch mit mir fertig. Vor dem Pokerzimmer sagte sie mir, sie sei müde und müsse gehen. Sie sagte auch, ich könne nicht mit ihr kommen. Sie bot mir nicht einmal an, mich zum Flughafen zu bringen. Es war ein kurzer Abschied. Wir trennten uns mit einem Kuss so bar jeder Leidenschaft, wie unsere Momente oben in der Suite voll davon erschienen waren. Wir trennten uns ohne Versprechungen, uns wieder zu treffen oder auch nur anzurufen. Wir verabschiedeten uns lediglich, und ich sah ihr nach, als sie sich durch das Casino entfernte.
Ich schaffte es, allein zum Flughafen zu kommen. Aber auch als ich an Bord der Maschine war, ließ mich das Ganze nicht los. Ich gab mir zwar Mühe und schlug das Mordbuch auf, aber es half nichts. Ich dachte weiter an die Rätsel. Nicht an die schönen Momente, an das Lächeln und die Erinnerungen und den Liebesakt. Ich dachte an unseren abrupten Abschied und wie sie meiner Frage, ob sie mit jemandem zusammen sei, ausgewichen war. Sie hatte gesagt, sie sei nicht verliebt,
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