Harry Bosch 15 - Neun Drachen
verstecken. Er schlug die Pistole in die Decke seiner Tochter ein, öffnete die Wagentür und stieg aus. Er ging durch eine Öffnung in der Umfassungsmauer und legte das Bündel auf eine der überquellenden Mülltonnen. Dort konnte er sie sich jederzeit wieder holen, wenn er zurückkam.
Als er den ummauerten Bereich wieder verließ, stand Sun neben dem Auto und wartete auf ihn.
»Okay«, sagte er. »Ich komme mit.«
Sie gingen auf das Haus zu, in dem Peng wohnte.
»Darf ich Sie was fragen, Sun Yee? Nehmen Sie Ihre Sonnenbrille eigentlich auch mal ab?«
Suns Antwort erfolgte ohne Erklärung.
»Nein.«
Wieder blickte der Wachmann im Foyer kein einziges Mal auf. In dem Haus wohnten so viele Menschen, dass immer jemand mit einem Schlüssel auf den Aufzug wartete. Fünf Minuten später waren sie wieder vor Pengs Wohnung. Während Sun am Geländer Schmiere stand und die Sicht auf die Tür verdeckte, ließ sich Bosch auf ein Knie nieder und machte sich am Türschloss zu schaffen. Er brauchte länger als erwartet – fast vier Minuten –, aber er bekam es auf.
»Alles klar.«
Sun löste sich vom Geländer und folgte Bosch in die Wohnung.
Noch bevor er die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte, wusste Bosch, dass in der Wohnung der Tod Einzug gehalten hatte. Da war zwar kein überwältigender Gestank und kein Blut an den Wänden, und auch sonst gab es im ersten Zimmer keine konkreten Hinweise darauf. Doch Bosch war in seiner Zeit als Polizist an über fünfhundert Mordschauplätzen gewesen und glaubte, einen untrüglichen Riecher für Blut entwickelt zu haben. Auch wenn sich seine Theorie nicht wissenschaftlich untermauern ließ, war er fest davon überzeugt, dass vergossenes Blut in geschlossenen Räumen die Zusammensetzung der Luft veränderte. Und diese Veränderung spürte er jetzt. Das Wissen, dass es sich dabei um das Blut seiner Tochter handeln konnte, machte diese Erkenntnis schier unerträglich.
Um Sun vorzuwarnen, hob Bosch die Hand.
»Spüren Sie es, Sun Yee?«
»Nein. Was?«
»Jemand ist tot. Fassen Sie nichts an und treten Sie beim Gehen möglichst immer dahin, wohin ich getreten bin.«
Der Grundriss war der gleiche wie in der Wohnung nebenan. Zwei Zimmer, in diesem Fall von einer Mutter mit ihren zwei halbwüchsigen Kindern bewohnt. Im ersten Zimmer deutete nichts darauf hin, dass irgendetwas Ungewöhnliches passiert war. Auf dem Sofa lagen ein Kopfkissen und ein Bettlaken. Daraus schloss Bosch, dass der Junge auf der Couch schlief, während sich Mutter und Schwester das Schlafzimmer teilten.
Bosch ging ins Schlafzimmer. Der Vorhang war zugezogen, und es war dunkel. Bosch drückte mit dem Ellbogen auf den Lichtschalter, und die Deckenlampe über dem Bett ging an. Das Bett war nicht gemacht, aber leer. Es gab keinerlei Spuren von Kampf, Gewaltanwendung oder Tod. Bosch blickte nach rechts. Dort waren zwei weitere Türen. Eine führte vermutlich in einen begehbaren Kleiderschrank, die andere ins Bad.
Bosch hatte immer Latexhandschuhe eingesteckt. Er fischte ein Paar aus seiner Jackentasche und zog den linken an. Zuerst öffnete er die rechte der beiden Türen. Sie führte in einen begehbaren Kleiderschrank. Er war voll mit Kleidern, die entweder an Bügeln hingen oder auf dem Boden gestapelt waren. Auf dem oberen Bord standen mit chinesischen Schriftzeichen beschriftete Schachteln. Bosch verließ die Kammer und ging zur zweiten Tür. Er öffnete sie ohne Zögern.
Das kleine Bad war voll von getrocknetem Blut. Es war über Waschbecken, Kloschüssel und Fliesenboden verteilt. Die Rückwand und der schmutzig weiße Duschvorhang mit dem Blütenmuster waren von Spritz- und Tropfspuren überzogen.
Es war unmöglich, den Raum zu betreten, ohne mit dem Blut in Kontakt zu kommen. Aber das war Bosch jetzt egal. Er musste den Duschvorhang zurückziehen. Er musste Gewissheit haben.
Rasch durchquerte er das Bad und riss den Vorhang zur Seite.
Nach amerikanischen Maßstäben war die Dusche winzig. Nicht größer als die alten Telefonzellen vor dem Du-Par’s im Farmers Market. Aber irgendwie hatte es jemand geschafft, drei Leichen darin unterzubringen.
Mit angehaltenem Atem beugte sich Bosch vor, um nachzusehen, wer die Opfer waren. Alle waren vollständig bekleidet. Ganz oben war der Junge, der größte der drei. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf einer etwa vierzigjährigen Frau – seiner Mutter –, die mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt saß. Die Stellung der beiden suggerierte eine
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