Harry Bosch 15 - Neun Drachen
schüttelte den Kopf.
»Da passt zu vieles nicht ins Bild. Trotzdem soll sie natürlich unbedingt die Karteien mit Ihnen durchgehen. Vielleicht erkennt sie den Jungen auf einem der Fotos. Aber ehrlich gestanden, halte ich es für pure Zeitverschwendung.«
»Denken Sie? Immerhin hat er Mr. Li damit gedroht, zurückzukommen und ihn umzubringen.«
»Nein, er hat gesagt, er würde zurückkommen und ihm die Rübe wegpusten. Aber Mr. Li hat drei Schüsse in die Brust bekommen. Das war kein Mord aus Wut, Detective Chu. Das passt einfach nicht ins Bild. Aber keine Sorge, auch wenn ich es für Zeitverschwendung halte, wir werden der Sache nachgehen.«
Er wartete, dass Chu antwortete, aber als dieser das nicht tat, deutete Bosch auf die Zeitangabe auf dem Bildschirm.
»Li wurde am gleichen Wochentag zur gleichen Uhrzeit erschossen. Wir müssen davon ausgehen, dass er regelmäßig Schutzgeld gezahlt hat. Und wir müssen davon ausgehen, dass dieser Mann bei Lis Tod seine Hand im Spiel hatte. Ich glaube, das macht ihn zu einem besseren Tatverdächtigen.«
Das Vernehmungszimmer war sehr klein, und sie hatten die Tür offen gelassen. Bosch schloss sie nun und sah Chu an.
»Und jetzt wollen Sie mir erzählen, von all dem hätten Sie gestern noch nicht mal was geahnt.«
»Natürlich nicht, woher auch?«
»Hat Ihnen Mrs. Li nichts von irgendwelchen Zahlungen an die lokale Triade erzählt?«
Durch Chu ging ein Ruck. Er war wesentlich kleiner als Bosch, aber seine Haltung signalisierte Kampfbereitschaft.
»Was wollen Sie damit sagen, Bosch?«
»Damit will ich sagen, dass das Ihre Welt ist und Sie mich darauf hätten aufmerksam machen sollen. Ich bin nur zufällig selbst darauf gestoßen. Li hat diese beiden DVD s aufgehoben, weil darauf ein Ladendieb zu sehen ist. Nicht wegen der Schutzgeldzahlung.«
Sie standen sich jetzt weniger als einen halben Meter gegenüber.
»Also, für mich war gestern nichts zu erkennen, was in diese Richtung gedeutet hätte«, erklärte Chu. »Ich wurde nur an den Tatort gerufen, um für Sie zu dolmetschen. Sie haben mich kein einziges Mal nach meiner Meinung gefragt. Sie haben mich ganz bewusst außen vor gelassen, Bosch. Hätten Sie mich einbezogen, hätte ich vielleicht etwas gehört oder gesehen.«
»Erzählen Sie mir doch keinen Blödsinn. Sie sind nicht zum Ermittler ausgebildet worden, um Däumchen drehend herumzustehen. Sie brauchen keine Extraeinladung, um Fragen zu stellen.«
»Den Eindruck hatte ich bei Ihnen aber schon.«
»Und was soll das jetzt bitte heißen?«
»Es heißt, dass ich Sie beobachtet habe, Bosch. Wie Sie Mrs. Li behandelt haben, Ihren Sohn … mich.«
»Ach, diese Leier wieder.«
»Woran liegt es, an Vietnam? Sie waren doch in Vietnam, oder?«
»Bilden Sie sich bloß nicht ein, Sie wüssten irgendetwas über mich, Chu.«
»Ich bilde mir überhaupt nichts ein, aber ich weiß doch, was ich hier jeden Tag sehe. Ich bin nicht aus Vietnam, Detective. Ich bin Amerikaner. Hier geboren, wie Sie.«
»Können wir das vielleicht sein lassen und uns wieder mit dem Fall befassen?«
»Wie Sie meinen. Sie leiten die Ermittlungen.«
Chu stemmte die Hände gegen die Hüften und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Bosch versuchte, seine Emotionen hinunterzuschlucken. Er musste zugeben, dass Chu nicht ganz unrecht hatte. Und es war ihm peinlich, so leicht als einer von denen zu durchschauen zu sein, die mit Rassenvorurteilen aus Vietnam zurückgekehrt waren.
»Also gut«, begann er. »Vielleicht war es ja wirklich nicht richtig, wie ich mich Ihnen gegenüber gestern verhalten habe. Es tut mir leid. Aber jetzt sind Sie mit dabei, und ich muss alles wissen, was Sie wissen. Ohne dass Sie etwas zurückhalten.«
Auch von Chu fiel die Anspannung ab. »Was ich Ihnen gerade erzählt habe, ist alles. Das Einzige, was mir noch zu denken gibt, sind die zweihundertsechzehn Dollar.«
»Wieso?«
»Es ist eine doppelte Zahlung. Als ob Mr. Li eine Woche im Rückstand gewesen wäre. Vielleicht hatte er Schwierigkeiten, das Geld zusammenzukratzen. Sein Sohn sagte, das Geschäft wäre schlecht gegangen.«
»Und deshalb wurde er vielleicht umgebracht.«
Bosch deutete wieder auf den Bildschirm.
»Könnten Sie mir davon einen Ausdruck machen?«
»Ich hätte selbst auch gern einen.«
Chu ging zum Drucker und drückte zweimal auf einen Knopf. Kurz darauf wurden zwei Bilder des Manns ausgedruckt, wie er sich vom Ladentisch abwandte.
»Haben Sie Verbrecherkarteien?«, fragte Bosch.
Weitere Kostenlose Bücher