Harry Bosch 15 - Neun Drachen
auf Schmauchspuren zu untersuchen, um festzustellen, ob sie kurz davor eine Schusswaffe abgefeuert hatte. Wie erwartet, fanden sich keinerlei Schmauchspuren an ihr. Bosch fand, dass sie jetzt endgültig von der Liste der potenziellen Verdächtigen gestrichen werden konnte, auf der sie ohnehin nie richtig gestanden hatte.
»Wie weit reichen die in der Kasse gespeicherten Daten zurück?«, fragte Bosch.
»Wie es aussieht, ein ganzes Jahr. Ich habe auch schon ein paar Zahlen. Die wöchentlichen Bruttoeinnahmen betrugen im Schnitt etwas weniger als dreitausend Dollar. Berücksichtigt man jetzt Fixkosten, Wareneinsatz, Versicherungen und so weiter, konnte dieser Typ von Glück reden, wenn ihm fünfzigtausend im Jahr geblieben sind. Nicht gerade üppig, vor allem, wo sein Job in einer Gegend wie da unten wahrscheinlich gefährlicher war als der eines Streifenpolizisten.«
»Der Sohn hat gestern erzählt, in letzter Zeit wäre das Geschäft ziemlich schlechtgegangen.«
»Wenn ich mir diese Zahlen so ansehe, weiß ich nicht, wann es jemals gutgegangen sein soll.«
»In dieser Branche wird natürlich viel bar abgewickelt. Er könnte einiges schwarz eingestrichen haben.«
»Wahrscheinlich. Da war ja auch noch der Typ, an den er jede Woche zweihundert und ein paar Zerquetschte abdrücken musste. Das wären, aufs Jahr umgerechnet, schon mal zehntausend zusätzlich.«
Bosch erzählte Ferras, was er von Chu erfahren hatte und dass er hoffte, die AGU könnte den Mann identifizieren. Beide waren der Ansicht, dass sich die Ermittlungen mehr und mehr auf den Mann richteten, der auf dem körnigen Ausdruck des Überwachungsvideos zu sehen war. Der Geldeintreiber von der Triade. Dessen ungeachtet musste auch das mutmaßliche Gang-Mitglied, das am Samstag vor dem Mord mit Li aneinandergeraten war, identifiziert und vernommen werden, selbst wenn die Widersprüche zwischen den Gegebenheiten am Tatort und einem Mord aus Wut oder Rache diese Spur auf den zweiten Platz verdrängten.
Nachdem es vorerst nichts mehr zu besprechen gab, nahmen sie sich die Aussageprotokolle und den umfangreichen restlichen Papierkram vor, der mit jedem Mordfall einherging. Chu erschien als Erster zu dem Termin um zehn Uhr und kam unangemeldet an Boschs Schreibtisch.
»Ist Yee-ling noch nicht hier?«, fragte er statt eines Grußes.
Bosch blickte von seiner Arbeit auf.
»Wer ist Yee-ling?«
»Yee-ling Li, die Mutter.«
Bosch merkte, dass er nicht einmal den vollständigen Namen der Frau des Ermordeten gewusst hatte. Es war ihm peinlich, denn es zeigte, wie wenig er eigentlich in den Fall eingestiegen war.
»Nein, sie ist noch nicht hier. Sind Sie bei der AGU auf irgendwas Neues gestoßen?«
»Ich habe unsere Fotoalben durchgesehen. Unser Mann war allerdings nicht drin. Aber wir ziehen Erkundigungen ein.«
»Ja, ja, das sagen Sie schon die ganze Zeit. Was genau heißt eigentlich ›Erkundigungen einziehen‹?«
»Es heißt, dass die AGU ein Netzwerk an Beziehungen innerhalb der Community aufgebaut hat und wir uns über diese Kanäle diskret erkundigen, wer dieser Mann ist und wie es um Mr. Lis Verbindungen bestellt war.«
»Um seine Verbindungen?«, schnaubte Ferras. »Er wurde erpresst. Seine Verbindung ist, dass er ein Opfer war.«
»Detective Ferras«, erklärte Chu geduldig. »Sie sehen das alles aus typisch westlicher Sicht. Wie ich jedoch heute Morgen bereits Detective Bosch erklärt habe, könnte Mr. Li eine lebenslange Verbindung zu einer Triadengesellschaft gehabt haben. In seinem heimischen Dialekt nennt man das
quang xi.
Eine direkte Übersetzung gibt es dafür nicht, aber es hat etwas mit dem sozialen Netzwerk einer Person zu tun, und dazu gehört auch eine Triadenverbindung.«
Ferras sah Chu nur weiter an.
»Meinetwegen«, brummte er schließlich. »Bei uns hier nennt man das, glaube ich, ausgemachten Blödsinn. Das Opfer hat fast dreißig Jahre hier gelebt. Wie man so was in China nennt, interessiert mich nicht. Hier ist es Erpressung.«
Bosch bewunderte seinen jungen Partner für seine knallharte Reaktion. Er überlegte, ob er sich ebenfalls in den verbalen Schlagabtausch einschalten sollte, aber dann läutete das Telefon auf seinem Schreibtisch, und er nahm ab.
»Bosch.«
»Hier Rogers von unten. Sie haben Besuch. Zwei Personen, heißen beide Li. Sie sagen, sie haben einen Termin bei Ihnen.«
»Schicken Sie sie rauf.«
»Alles klar.«
Bosch hängte auf.
»Okay, sie sind auf dem Weg nach oben. Ich stelle mir die Sache so vor:
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