Harry Bosch 15 - Neun Drachen
auf Fingern, Kinn und Lippen des Opfers. Aber keines auf den Zähnen. Hatte er also richtig vermutet.
»Wie es aussieht, haben Sie es hier mit einem hochgradig sadistischen Killer zu tun, Detective Bosch.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil er dem Opfer entweder eine Patronenhülse in den Rachen geschoben hat oder die ausgeworfene Hülse sonst irgendwie in seinen Mund geraten ist. Da allerdings die Wahrscheinlichkeit für letztere Möglichkeit etwa bei eins zu einer Million liegen dürfte, würde ich auf Ersteres tippen.«
Bosch nickte. Nicht, weil er einer Meinung mit ihr war, sondern weil er eine Erklärung dafür hatte, auf die Dr. Laksmi nicht gekommen war. Er glaubte, jetzt einen Hinweis darauf zu haben, was hinter dem Ladentisch von Fortune Liquors passiert war. Eine der aus der Pistole des Täters ausgeworfenen Patronenhülsen war entweder auf oder neben John Li gelandet, als dieser hinter dem Ladentisch sterbend auf dem Boden lag. Entweder hatte er seinen Mörder die Hülsen einsammeln sehen, oder er hatte geahnt, dass sie bei der Aufklärung des Mordes eine wichtige Rolle spielen könnten. Damit sein Mörder sie nicht fände, hatte Li in seinen letzten Momenten nach der Patronenhülse gegriffen und sie zu schlucken versucht.
John Lis letzte Handlung war gewesen, Bosch einen wichtigen Hinweis zukommen zu lassen.
»Haben Sie die Hülse gesäubert, Doktor?«, fragte Bosch.
»Ja. Es war zwar Blut in die Kehle hochgestiegen, aber die Hülse hat wie ein Pfropfen gewirkt und fast nichts davon in die Mundhöhle dringen lassen. Um überhaupt erkennen zu können, was es ist, musste ich sie erst säubern.«
»Verstehe.«
Bosch wusste, die Wahrscheinlichkeit, dass sich auf der Hülse Fingerabdrücke befanden, war sehr gering. Beim Abfeuern eines Projektils brachte die Explosion der Gase Fingerabdrücke auf der Patronenhülse fast immer zum Verdampfen.
Waren allerdings die Projektile stark deformiert, war man auf die Hülsen angewiesen, um sie einer bestimmten Waffe zuordnen zu können. Ein kurzer Blick in die Behälter mit den Projektilen genügte Bosch, um festzustellen, dass es Hohlspitzengeschosse waren. Sie waren beim Aufprall so stark gestaucht worden, dass äußerst fraglich war, ob eines von ihnen noch zu einem Vergleich herangezogen werden könnte. Aber die Hülse war aller Wahrscheinlichkeit nach ein solides Beweisstück. Die von Auszieher, Schlagbolzen und Auswerfer der Waffe hinterlassenen Spuren konnten sich bei der Identifizierung und Zuordnung der Tatwaffe, sollte sie jemals gefunden werden, als nützlich erweisen. Mit Hilfe der Hülse ließe sich die Verbindung zwischen Opfer und Tatwaffe herstellen.
»Möchten Sie mein Resümee hören, damit Sie gleich wieder loskönnen?«, fragte Laksmi.
»Gern, Doktor, ich höre.«
Während Laksmi ihre vorläufigen Erkenntnisse aufzählte, nahm Bosch vier durchsichtige Beweismitteltüten von einem Bord über dem Tisch und steckte Projektile und Hülse in jeweils eine davon. Die Hülse sah aus, als stammte sie von einer Neun-Millimeter-Patrone, aber zweifelsfrei könnte das nur die Ballistik bestimmen. Bosch versah jede der Tüten mit seinem und Laksmis Namen und der Fallnummer, dann lüpfte er seinen Schutzkittel und steckte sie in seine Jackentasche.
»Das erste Projektil drang links oben in die Brust ein, durchschlug die rechte Herzkammer, traf dann den obersten Rückenwirbel und durchtrennte das Rückenmark. Das Opfer müsste sofort zu Boden gefallen sein. Die nächsten zwei Schüsse schlugen rechts und links vom oberen Sternum ein. In welcher Reihenfolge diese beiden Schüssen gefallen sind, lässt sich nicht feststellen. Die Projektile durchbohrten den rechten und linken Lungenflügel und blieben dann in der Rückenmuskulatur stecken. Die drei Schüsse hatten ein sofortiges Aussetzen der kardiopulmonalen Funktion und somit den Tod zur Folge. Ich würde sagen, das Opfer hat noch allerhöchstens dreißig Sekunden gelebt.«
Der Hinweis auf die Schädigung des Rückenmarks schien Boschs Arbeitstheorie zu widersprechen, dass John Li die Patronenhülse absichtlich geschluckt hatte.
»Hätte er mit so einer Rückenmarksverletzung noch Arme und Hände bewegen können?«
»Nicht sehr lange. Der Tod trat fast sofort ein.«
»Aber vollständig gelähmt war er nicht? Könnte er in diesen letzten dreißig Sekunden nach der Hülse gegriffen und sie sich in den Mund gesteckt haben?«
Laksmi dachte kurz über dieses neue Szenario nach, bevor sie
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