Harry Bosch 15 - Neun Drachen
den seltensten Fällen.«
Die Detectives bedankten sich bei Li und ließen ihn in seinem Büro zurück, einen Sechsundzwanzigjährigen, der plötzlich zwanzig Jahre älter wirkte. Als sie durch den Laden gingen, sah Bosch auf die Uhr und stellte fest, dass es schon nach eins war. Er hatte Hunger und wollte sich etwas zu essen besorgen, bevor er in die Rechtsmedizin fuhr, wo um zwei die Autopsie begänne. Er blieb an der Warmtheke stehen und entschied sich für den Hackbraten. Er zog eine Nummer aus dem Verteiler. Als er Chu anbot, ihm auch eine Scheibe zu kaufen, sagte Chu, er sei Vegetarier.
Bosch schüttelte den Kopf.
»Was ist?«, fragte Chu.
»Ich glaube nicht, dass es mit uns als Partnern klappen würde, Chu«, meinte Bosch. »Ich traue niemandem über den Weg, der nicht ab und zu einen Hot Dog isst.«
»Ich esse Tofu-Hot-Dogs.«
Bosch verzog das Gesicht.
»Die zählen nicht.«
In diesem Moment sah er Robert Li auf sie zukommen.
»Ich habe ganz vergessen, zu fragen. Wann wird die Leiche meines Vater an uns herausgegeben?«
»Wahrscheinlich morgen«, antwortete Bosch. »Die Autopsie ist heute.«
Li schien aus allen Wolken zu fallen.
»Mein Vater war ein sehr spiritueller Mensch. Müssen Sie seinen Körper so entweihen?«
Bosch nickte.
»Gesetz. Nach jedem Mord wird eine Autopsie durchgeführt.«
»Wann werden sie es machen?«
»In einer Stunde.«
Li nickte resigniert.
»Bitte sagen Sie meiner Mutter nichts davon. Werden Sie mich anrufen, wenn ich die Leiche haben kann?«
»Ich werde es veranlassen.«
Li dankte ihnen und kehrte in sein Büro zurück. Bosch hörte den Mann hinter der Theke seine Nummer aufrufen.
9
A uf der Fahrt zurück in die Stadt gestand Chu Bosch, dass er in vierzehn Jahren Polizeidienst noch an keiner Autopsie teilgenommen hatte und auch nicht vorhatte, daran etwas zu ändern. Er sagte, er wolle ins AGU -Büro zurück, um sich wieder an die Identifizierung des Geldeintreibers der Triade zu machen. Bosch setzte ihn vor dem Eingang ab und fuhr zur Rechtsmedizin in der Mission Road weiter. Bis er sich am Empfang gemeldet, angezogen und in Zimmer drei eingefunden hatte, war die Obduktion John Lis bereits in vollem Gange. In der Rechtsmedizin des County wurden jährlich sechstausend Autopsien vorgenommen. Die Autopsieräume waren immer ausgebucht, und die Rechtsmediziner warteten nicht auf zu spät kommende Cops. Ein guter Pathologe konnte eine Obduktion in einer Stunde durchziehen.
Das war Bosch nur recht. Ihn interessierten die Resultate einer Autopsie, nicht der Vorgang als solcher.
John Lis Leiche lag nackt und malträtiert auf dem kalten Obduktionstisch aus rostfreiem Stahl. Der Brustkorb war geöffnet, und die lebenswichtigen Organe waren entfernt worden. Dr. Sharon Laksmi war an einem zweiten Tisch damit beschäftigt, Gewebeproben auf Objektträger aufzubringen.
»Tag, Frau Doktor«, sagte Bosch.
Laksmi wandte sich von ihrer Tätigkeit ab und schaute zu ihm. Wegen der Gesichtsmaske und der Haube war Bosch nicht ohne weiteres für sie zu erkennen. Es war lange her, dass die Detectives einfach reinschneien und zusehen konnten. Die Gesundheitsbestimmungen des County verlangten ein ganzes Arsenal an Schutzvorkehrungen.
»Bosch oder Ferras?«
»Bosch.«
»Ein bisschen spät. Ich habe schon ohne Sie angefangen.«
Laksmi war zierlich und dunkel. Das Auffälligste an ihr war, dass ihre Augen hinter dem Plastikvisier ihrer Maske stark geschminkt waren. Es war, als wäre ihr bewusst, dass ihre Augen das Einzige waren, was die Leute unter der ganzen Sicherheitskleidung, die sie die meiste Zeit trug, von ihr sahen. Sie sprach mit einem leichten Akzent. Aber wer tat das in L.A. nicht? Selbst der aus dem Amt scheidende Polizeichef hörte sich an, als wäre er aus South Boston.
»Ja, sorry. Ich war beim Sohn des Opfers, und das hat sich etwas gezogen.«
Das Hackbraten-Sandwich, das ihn ebenfalls etwas Zeit gekostet hatte, erwähnte er nicht.
»Das ist vermutlich, was Sie interessiert.«
Sie tippte mit dem Skalpell auf einen von vier auf der Arbeitsplatte aufgereihten Stahlbechern. Bosch trat näher und schaute hinein. Jeder enthielt ein aus der Leiche entferntes Beweisstück. Drei deformierte Projektile und eine Patronenhülse.
»Sie haben eine Hülse gefunden? Befand sie sich irgendwo an der Leiche?«
»Eigentlich in ihr.«
»
In
der Leiche?«
»Richtig. Sie steckte in der Speiseröhre.«
Bosch dachte an das, was er beim Studium der Tatortfotos entdeckt hatte. Blut
Weitere Kostenlose Bücher