Harry Bosch 15 - Neun Drachen
zusammengefaltete Decke vom Bett. Eleanor blickte sich um und bekam es mit.
»Vielleicht ist sie müde und will schlafen«, erklärte ihr Bosch.
Sie verließen die Wohnung. Als sie im Aufzug nach unten fuhren, hielt Bosch unter einem Arm die Decke und das Kissen, im anderen einen der Rucksäcke. Das Kissen roch nach dem Shampoo seiner Tochter.
»Hast du die Pässe dabei?«, fragte Bosch.
»Ja, habe ich«, sagte Eleanor.
»Darf ich dich was fragen?«
Er tat so, als studierte er das Pony-Muster der Decke, die er hielt.
»Wie weit kannst du Sun Yee trauen? Ich weiß nicht, ob wir ihn nicht lieber loswerden sollten, sobald wir die Pistole haben.«
Eleanor antwortete ohne Zögern.
»Ich sage dir doch, du brauchst dir seinetwegen keine Sorgen zu machen. Ich vertraue ihm uneingeschränkt, und er bleibt bei uns. Er bleibt bei mir.«
Bosch nickte. Eleanor blickte zu den über die Digitalanzeige huschenden Stockwerksnummern hoch.
»Ich vertraue ihm vollkommen«, fügte sie nach einer Weile hinzu. »Und Maddie auch.«
»Woher weiß Maddie überhaupt …«
Er hielt mitten im Satz inne. Plötzlich verstand er, was sie sagte. Sun war der Mann, von dem ihm Madeline erzählt hatte. Er und Eleanor waren zusammen.
»Verstehst du jetzt?«, fragte sie.
»Ja, jetzt verstehe ich. Aber bist du sicher, dass ihm auch Madeline vertraut?«
»Ja, ganz sicher. Wenn sie dir etwas anderes erzählt hat, dann nur, um Mitleid zu schinden. Sie ist ein Mädchen, Harry. Sie weiß, wie man andere um den Finger wickelt. Sicher, ihr Leben wurde ein bisschen … durcheinandergebracht durch meine Beziehung zu Sun Yee. Aber er hat ihr immer nur Freundlichkeit und Respekt entgegengebracht. Sie wird darüber hinwegkommen. Das heißt, wenn wir sie finden.«
Sun Yee wartete mit dem Auto in der Auffahrt vor dem Haus. Die Rucksäcke verstauten Bosch und Eleanor im Kofferraum, aber das Kissen und die Decke packte Bosch auf den Rücksitz. Sun fuhr los und nahm die Stubbs Road hinunter nach Happy Valley und dann hinüber nach Wan Chai.
Bosch versuchte, nicht mehr an das Gespräch im Aufzug zu denken. Es war im Moment nicht wichtig, weil es ihm nicht helfen würde, seine Tochter zurückzubekommen. Aber es war schwer, seine Gefühle auszublenden. Seine Tochter hatte ihm bereits in L.A. erzählt, dass Eleanor eine Beziehung hatte. Und auch er war seit ihrer Scheidung Beziehungen eingegangen. Aber hier in Hongkong mit dieser Tatsache konfrontiert zu werden war hart. Er saß mit der Frau, die er auf einer sehr elementaren Ebene immer noch liebte, und ihrem neuen Mann im Auto. Es war schwer zu verkraften.
Er saß hinter Eleanor. Er schaute über den Sitz auf Sun und studierte die stoische Haltung des Mannes. Er war nicht nur als Bodyguard dabei. Für ihn ging es um mehr. Bosch merkte, dass er von ihm profitieren konnte. Wenn sich seine Tochter auf ihn verlassen konnte, dann konnte auch er das. Alles andere brauchte ihn nicht zu interessieren.
Als ob er Boschs Blick gespürt hätte, drehte sich Sun zur Seite und sah Bosch an. Trotz der dunklen Sonnenbrille, die Suns Augen verdeckte, konnte Bosch erkennen, dass er die Situation vollkommen verstand und wusste, dass es keine Geheimnisse mehr gab.
Bosch nickte. Es war nicht irgendeine Art von Zustimmung, die er erteilte. Es war nur die stumme Feststellung, dass ihm jetzt klar war, dass sie da alle drei drinsteckten.
26
W an Chai war der Teil Hongkongs, der nie schlief. Der Ort, an dem alles passieren konnte und zum entsprechenden Preis alles erhältlich war. Alles, egal was. Bosch wusste, wenn er zu der Pistole, die sie sich besorgen würden, eine Laser-Zielvorrichtung haben wollte, könnte er sie bekommen. Wenn er auch noch gleich einen Auftragskiller engagieren wollte, könnte er wahrscheinlich auch den finden. Gar nicht erst zu reden von den anderen Dingen wie Drogen und Frauen, die es in den Strip-Clubs und Discos der Lockhart Road in Hülle und Fülle gab.
Es war halb neun Uhr morgens und helllichter Tag, als sie die Lockhart Road hinunterfuhren. In vielen Clubs herrschte noch Betrieb; die Fensterläden waren gegen das Tageslicht geschlossen, aber darüber, in der raucherfüllten Luft, gleißte helles Neon. Die nasse Straße dampfte, und über den glänzenden Asphalt und die Windschutzscheiben der am Straßenrand wartenden Taxis spritzten gespiegelte Neonsplitter.
Türsteher standen Wache, auf Hockern sitzende Schlepperinnen lockten Fußgänger und Autofahrer gleichermaßen. Männer in
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