Harry Bosch 15 - Neun Drachen
wohl bei dem Gedanken, dass direkt unter seinen Füßen ein offener Schacht war, der vierundvierzig Stockwerke in die Tiefe reichte.
Die Tür öffnete sich auf ein kleines Foyer, von dem die vier Wohnungen auf der Etage abgingen. Eleanor ging zur ersten Tür auf der rechten Seite und schloss sie auf.
»Der Kaffee ist im Hängeschrank über der Spüle. Ich brauche nicht lange.«
»Gut. Willst du auch eine Tasse?«
»Nein, danke. Ich habe schon am Flughafen welchen getrunken.«
Sie betraten die Wohnung, und Eleanor verschwand sofort ins Schlafzimmer, während Bosch in die Küche ging und sich ans Kaffeekochen machte. Er nahm einen Becher mit der Aufschrift
World’s Best Mom
aus dem Schrank. Er war vor langer Zeit von Hand bemalt worden, und die Wörter waren mit jedem Waschgang in der Spülmaschine stärker verblasst.
Den heißen Kaffee schlürfend, ging er aus der Küche ins Wohnzimmer, um die Aussicht zu genießen. Die Wohnung war nach Westen ausgerichtet, und man hatte einen atemberaubenden Blick auf Hongkong und seinen Hafen. Bosch war nur wenige Male in der Wohnung gewesen und wurde nie müde, sich das anzusehen. Wenn er zu Besuch hier war, holte er seine Tochter meistens unten im Foyer oder in der Schule ab.
Ein riesiges weißes Kreuzfahrtschiff glitt durch den Hafen aufs offene Meer hinaus. Bosch beobachtete es eine Weile, bis er das Canon-Zeichen auf dem Gebäude in Kowloon bemerkte. Es erinnerte ihn an seine Mission. Er drehte sich zum Flur, der zu den Schlafzimmern führte. Er fand Eleanor im Zimmer ihrer Tochter, wo sie weinend Kleider in einen Rucksack packte.
»Ich weiß nicht, was ich mitnehmen soll«, schluchzte sie. »Ich weiß nicht, wie lange wir weg sein werden und was sie brauchen wird. Ich weiß nicht mal, ob wir sie jemals wiedersehen.«
Ihre Schultern bebten, als sie den Tränen freien Lauf ließ. Bosch legte ihr die Hand auf die Schulter, aber sie schüttelte sie sofort ab. Sie wollte sich nicht von ihm trösten lassen. Unwirsch zog sie den Reißverschluss des Rucksacks zu und verließ damit das Zimmer. Plötzlich sich selbst überlassen, blickte sich Bosch darin um.
Auf jeder horizontalen Fläche waren Souvenirs aus L.A. und anderen Städten. Die Wände waren mit Postern von Filmen und Musikgruppen bepflastert. Von einem Ständer in der Ecke hingen Mützen, Masken und Ketten. Zwischen die Kissen auf dem Bett kuschelten sich Plüschtiere aus früheren Zeiten. Bosch konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass er allein aufgrund der Tatsache, dass er sich gerade ohne die Erlaubnis seiner Tochter in ihrem Zimmer aufhielt, ihre Privatsphäre verletzte.
Auf einem kleinen Schreibtisch stand ein aufgeklappter Laptop. Bosch tippte auf die Leertaste, und der Bildschirm erhellte sich. Der Bildschirmhintergrund war ein Foto von Madelines letztem Besuch in L.A. Es waren mehrere Surfer darauf zu sehen, die auf ihren Boards im Wasser trieben und auf die nächste Welle warteten. Sie waren damals nach Malibu gefahren, um in einem Lokal namens Marmelade zu frühstücken, und anschließend hatten sie an einem Strand in der Nähe den Surfern zugesehen.
Bosch bemerkte eine kleine Elfenbeinschatulle, die neben der Maus auf dem Schreibtisch stand. Sie erinnerte ihn an den Griff des Messers, das er in Changs Koffer gefunden hatte. Sie sah aus wie etwas, in dem man wichtige Dinge, Geld zum Beispiel, aufbewahrte. Er öffnete sie und stellte fest, dass sie nur einen roten Faden mit drei Jadeaffen enthielt – nichts Böses sehen, nichts Böses hören, nichts Böses sagen. Bosch nahm den Anhänger aus der Schatulle, um ihn sich genauer anzusehen. Der rote Faden war nicht länger als fünf Zentimeter und an einem Ende mit einem kleinen silbernen Ring versehen, um ihn an etwas befestigen zu können.
»Können wir?«
Bosch drehte sich um. Eleanor stand in der Tür.
»Klar. Was ist das, ein Ohrring?«
Eleanor kam näher, um es sich anzusehen.
»Nein, diese Dinger hängen die Kids an ihre Handys. Man kann sie auf dem Jademarkt in Kowloon kaufen. Weil sie häufig die gleichen Handys haben, peppen sie sie ein bisschen auf, um sie nicht ständig zu verwechseln.«
Bosch nickte, als er den Jadeanhänger in die Elfenbeinschatulle zurücklegte.
»Ist so was teuer?«
»Nein, das ist billige Jade. Diese Dinger kosten etwa einen US -Dollar, und die Kids kaufen sich ständig neue. Jetzt komm.«
Bosch blickte sich ein letztes Mal im Refugium seiner Tochter um und nahm auf dem Weg nach draußen ein Kissen und eine
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