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Harry Bosch 15 - Neun Drachen

Harry Bosch 15 - Neun Drachen

Titel: Harry Bosch 15 - Neun Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Connelly
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den tiefsten Punkt in der Mitte erreicht hatten und die Straße in Richtung Kowloon wieder anstieg. Er hatte während der Fahrt immer wieder Fehlzündungen anderer Autos gehört. Kurz entschlossen wickelte er die Decke seiner Tochter um die Pistole, zog das Kissen zu sich heran und schaute aus dem Rückfenster. Weil die Autos hinter ihnen die tiefste Stelle in der Mitte des Tunnels noch nicht erreicht hatten, waren keine Fahrzeuge zu sehen.
    »Wem gehört der Wagen eigentlich?«, fragte er.
    »Dem Casino«, antwortete Eleanor. »Ich habe ihn mir geliehen. Warum?«
    Bosch ließ das Fenster herunter, hob das Kissen hoch und drückte den Lauf der Pistole hinein. Dann betätigte er zweimal kurz hintereinander den Abzug, wie er es immer machte, wenn er eine Waffe ausprobierte. Die Kugeln prallten von den gefliesten Wänden des Tunnels zurück.
    Obwohl Bosch die Pistole gedämmt hatte, dröhnte das Wageninnere von den zwei Schüssen. Der Mercedes geriet leicht ins Schleudern, als Sun auf den Rücksitz schaute. Und Eleanor kreischte:
    »Bist du wahnsinnig geworden?«
    Bosch ließ das Kissen auf den Boden fallen und fuhr das Fenster wieder hoch. Im Auto roch es nach verbranntem Schießpulver, aber es war wieder still. Er entfernte die Decke und untersuchte die Pistole. Sie hatte sich leicht und ohne zu klemmen abfeuern lassen. Zwar hatte er nur noch vierzehn Schuss, aber jetzt war er bereit.
    »Ich wollte mich erst vergewissern, dass sie funktioniert«, sagte er. »Wenn man sich dessen nicht sicher ist, braucht man erst gar keine Waffe einzustecken.«
    »
Bist du vollkommen übergeschnappt?
Wegen so was könnten wir verhaftet werden, bevor wir überhaupt dazu kommen, irgendetwas zu tun!«
    »Wenn du etwas leiser sprichst und Sun Yee die Spur hält, dürften wir eigentlich nichts zu befürchten haben.«
    Bosch beugte sich vor und steckte sich die Pistole am Rücken in den Hosenbund. Ihr Schieber fühlte sich warm an auf seiner Haut. Weit vorn sah er Licht am Ende des Tunnels. Bald wären sie in Kowloon.
    Es ging los.

27
    S ie kamen in Tsim Sha Tsui an der Spitze der Halbinsel Kowloon aus dem Tunnel und hatten wenige Minuten später die Nathan Road erreicht. Die breite vierspurige Straße führte durch ein belebtes Wohn- und Geschäftsviertel und war auf beiden Seiten von Hochhäusern gesäumt. In deren unteren zwei Etagen befanden sich Restaurants und Geschäfte, in den Stockwerken darüber Wohnungen und Büros. Das wilde Durcheinander aus Videowänden und Schildern in chinesischer und englischer Sprache fügte sich zu einem chaotischen Mosaik aus Farbe und Bewegung. Das architektonische Spektrum reichte von schäbigen Jahrhundertmitte-Bauten bis hin zur geleckten Glas-und-Stahl-Architektur des jüngsten Wirtschaftsaufschwungs.
    Aus dem Wageninnern war es nicht möglich, den oberen Rand der Straßenschlucht zu sehen. Deshalb öffnete Bosch das Fenster und lehnte sich nach draußen, um nach dem Canon-Zeichen Ausschau zu halten, seinem ersten Orientierungspunkt. Als er es nirgendwo entdeckte, zog er sich wieder ins Auto zurück und schloss das Fenster.
    »Sun Yee, halten Sie an.«
    Sun sah ihn im Rückspiegel an.
    »Hier anhalten?«
    »Ja, hier. Ich kann nichts sehen. Ich muss aussteigen.«
    Sun sah Eleanor fragend an, und sie nickte.
    »Wir beide steigen aus. Du findest schon einen Parkplatz.«
    Sun fuhr an den Straßenrand, und Bosch sprang nach draußen. Er hielt den Ausdruck des Videostandbilds, den er inzwischen aus dem Rucksack geholt hatte, in der Hand. Sun fuhr wieder los und ließ Eleanor und Bosch auf dem Gehsteig zurück. Inzwischen war es Vormittag, und es wimmelte von Autos und Menschen. In der Luft hing Rauch, und es roch nach Feuer. Die hungrigen Geister waren nicht weit. Das Straßenbild war geprägt von Neon, verspiegeltem Glas und riesigen Plasmabildmonitoren, über die eine lautlose Bildwelt aus ruckartigen Bewegungen und Stakkatoschnitten zuckte.
    Bosch zog das Foto zu Rate, dann legte er den Kopf in den Nacken und ließ den Blick die Skyline entlangwandern.
    »Wo ist das Canon-Zeichen?«, fragte er.
    »Harry, du hast vollkommen die Orientierung verloren.« Eleanor legte die Hände auf seine Schultern und drehte ihn um hundertachtzig Grad.
    »Vergiss nicht, alles ist spiegelverkehrt.«
    Eleanors Finger zog einen Strich an der Seite des Gebäudes hinauf, vor dem sie standen, als sie fast senkrecht nach oben deutete. Bosch blickte in die angegebene Richtung. Das Canon-Zeichen war direkt über ihm und aus

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