Harry Bosch 15 - Neun Drachen
diesem steilen Winkel nicht lesbar. Von den Buchstaben des sich langsam drehenden Zeichens war nur der untere Rand zu sehen.
»Ach so, jetzt sehe ich es. Hier fangen wir an.«
Er senkte den Blick wieder auf das Foto.
»Ich glaube, wir müssen noch mindestens eine Straße vom Hafen fort landeinwärts gehen.«
»Warten wir erst, bis Sun Yee hier ist.«
»Ruf ihn an und sag ihm, wohin wir gehen.«
Bosch hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Eleanor blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
»Na schön, meinetwegen.«
Sie holte ihr Handy heraus und rief Sun an. Weil Bosch im Gehen den Blick auf die oberen Etagen der Häuser gerichtet und nach Klimaanlagen Ausschau hielt, rempelte er mehrere Male beinahe andere Passanten an. Es schien keine einheitliche Regelung zu geben, sich rechts zu halten. Die Leute gingen kreuz und quer, und Bosch musste ständig aufpassen, dass er mit niemandem zusammenstieß. Als die Menschen vor ihm plötzlich völlig unerwartet nach links und rechts auswichen, stolperte Bosch fast über eine alte Frau, die auf dem Gehsteig lag und die Hände flehentlich gefaltet über einen Korb mit Münzen hielt. Bosch schaffte es gerade noch, einen Schritt zur Seite zu machen, und fasste gleichzeitig in seine Tasche.
Eleanor legte ihm rasch die Hand auf den Arm.
»Nicht. Angeblich müssen sie alles Geld, das man ihnen gibt, am Ende des Tages an die Triaden abliefern.«
Bosch hinterfragte es nicht. Er konzentrierte sich weiter auf das Kommende. Sie gingen zwei Straßen weiter, und dann sah und hörte Bosch ein weiteres Puzzleteilchen an seinen Platz fallen. Auf der anderen Straßenseite war ein Eingang zur Mass Transit Railway, ein mit Glasscheiben abgetrennter Bereich, von dem mehrere Lifte zur U-Bahn hinunterführten.
»Warte«, sagte Bosch und blieb stehen. »Wir sind ganz in der Nähe.«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Eleanor.
»Die MTR . Sie war auf dem Video zu hören.«
Wie auf ein Stichwort hin stieg ein anschwellender Luftschwall nach oben, als ein Zug in die U-Bahn-Station einfuhr. Es hörte sich an wie Wellenrauschen. Bosch blickte auf das Foto in seiner Hand und dann an den umstehenden Häusern hinauf.
»Lass uns auf die andere Seite gehen.«
»Warten wir doch erst auf Sun Yee. Wie soll ich ihm erklären, wo er sich mit uns treffen soll, wenn wir ständig den Ort wechseln.«
»Wenn wir auf der anderen Straßenseite sind.«
Sie eilten an einer blinkenden Fußgängerampel über die Straße. In der Nähe des MTR -Eingangs sah Bosch mehrere Bettlerinnen. Es kamen mehr Menschen aus der U-Bahn-Station nach oben, als nach unten fuhren. Kowloon füllte sich. Die Luft dampfte vor Feuchtigkeit, und Bosch klebte das Hemd am Rücken.
Er drehte sich um und blickte nach oben. Sie waren in einem Straßenabschnitt mit älteren Häusern. Fast so, als ginge man im Flugzeug von der ersten Klasse in die Economy Class. Die Gebäude in diesem und im nächsten Block waren niedriger – zirka zwanzig Stockwerke – und in schlechterem Zustand als die Häuser, die näher am Hafen lagen. Bosch fiel auch auf, dass zahlreiche Fenster offen waren und viele einzelne Klimaanlagengehäuse aus den Fassaden hervorstanden. Er spürte, wie sich sein Adrenalinspeicher zu öffnen begann.
»Okay, hier sind wir richtig. In einem dieser Häuser muss sie sein.«
Um von den Menschenmassen und den lauten Unterhaltungen in der Nähe des MTR -Eingangs wegzukommen, begann Bosch, die Straße hinunterzugehen. Er hielt den Blick auf die oberen Stockwerke der umstehenden Häuser gerichtet. Dort oben, in einer der Nischen dieser Straßenschlucht, war seine entführte Tochter.
»Wo willst du jetzt schon wieder hin, Harry? Eben habe ich Sun Yee gesagt, er soll sich am MTR -Eingang mit uns treffen.«
»Warte du hier auf ihn. Ich gehe nur noch ein Stück die Straße runter.«
»Nein, ich komme mit dir.«
In der Mitte des Blocks blieb Bosch stehen und zog wieder das Foto zu Rate. Aber einen eindeutigen Hinweis gab es nicht. Er wusste, er war in der Nähe, aber wenn die Suche von jetzt an kein reines Ratespiel werden sollte, brauchte er Hilfe. Er war von Tausenden von Zimmern und Fenstern umgeben, und ihm dämmerte, dass der letzte Teil seiner Suche ein aussichtsloses Unterfangen war. Da hatte er über zehntausend Kilometer zurückgelegt, um seine Tochter zu finden, und war dennoch genauso hilflos wie die abgerissenen Frauen, die bettelnd auf dem Gehsteig hockten.
»Lass mich das Foto noch mal sehen«, sagte
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