Harry Bosch 15 - Neun Drachen
Er fragte sich, ob sie den weiten Weg hierher allein oder mit Freunden gekommen war. Vielleicht mit He und Quick?
Vor einem der Eingänge verkaufte eine alte Frau Räucherstäbchen. Neben ihr standen ein Eimer, in dem ein Feuer brannte, und ein Klapptisch, auf dem sie alle möglichen zum Verbrennen gedachten Pappmachégegenstände zum Verkauf anbot. Bosch sah mehrere Tiger darunter und fragte sich, wozu ein verstorbener Ahne einen Tiger brauchen könnte.
»Hier.«
Sun hielt Bosch ein Meldeformular hin.
»Was steht da drauf?«
»Tuen Mun. Wir fahren hin.«
Für Bosch hörte es sich an, als sagte er
Tin Moon.
»Was ist Tin Moon?«
»Tuen Mun.
Das ist in den New Territories. Dieser Mann wohnt dort.«
»Wie heißt er?«
»Peng Qingcai.«
Qingcai,
dachte Bosch. Ein naheliegender Sprung zu einem amerikanisierten Namen, den man bei den Mädchen in der Mall verwenden konnte, wäre Quick. Möglicherweise war Peng Qingcai Hes älterer Bruder, der Junge, in dessen Begleitung Madeline am Freitag die Mall verlassen hatte.
»Steht auf dem Formular auch sein Alter oder sein Geburtsdatum?«
»Nein, kein Alter.«
Wäre auch ein bisschen viel verlangt gewesen. Auch Bosch hatte sein Geburtsdatum nicht angegeben, als er die Zimmer gemietet hatte, und der Mann am Schalter hatte außer seiner Passnummer keine weiteren Angaben zu seiner Person eingetragen.
»Aber die Adresse steht drauf?«
»Ja.«
»Wissen Sie, wie man dorthin kommt?«
»Ja, ich kenne dieses Viertel.«
»Gut. Fahren wir. Wie lange werden wir etwa brauchen?«
»Im Auto lange. Wir fahren nach Norden, dann Westen. Das dauert eine Stunde oder mehr. Mit Zug wäre schneller.«
Die Zeit war ein wichtiger Faktor, aber Bosch wusste, dass sie mit dem Auto unabhängiger wären.
»Nein«, sagte er deshalb. »Wenn wir sie finden, brauchen wir das Auto.«
Sun nickte zum Zeichen seines Einverständnisses und fuhr vom Straßenrand los. Bosch schlüpfte aus seinem Sakko und krempelte den Hemdsärmel hoch, um sich die Wunde an seinem Arm anzusehen. Der fünf Zentimeter lange Schnitt befand sich unterhalb des Ellbogens an der Innenseite des Unterarms. Die Wunde hatte endlich begonnen zu verschorfen.
Sun schaute kurz zu Bosch hinüber, richtete den Blick aber sofort wieder auf die Straße.
»Wer hat das getan?«
»Der Mann hinter dem Schalter.«
Sun nickte.
»Das alles haben wir nur ihm zu verdanken, Sun Yee. Er hat mein Geld gesehen und uns diese zwei Kerle auf den Hals gehetzt. Das war ganz schön dumm von mir.«
»Es war ein Fehler.«
Sun hatte die wütende Anschuldigung, die er im Treppenhaus vorgebracht hatte, inzwischen eindeutig zurückgenommen. Aber Bosch revidierte das Urteil, das er selbst über sich gefällt hatte, nicht. Er war schuld an Eleanors Tod.
»Aber derjenige, der dafür büßen musste, war nicht ich«, sagte er.
Bosch holte das Klappmesser aus seiner Jackentasche, nahm die Decke vom Rücksitz, schnitt einen langen Streifen davon ab und wickelte ihn um seinen Arm. Zum Schluss vergewisserte er sich, dass der Verband nicht zu fest saß und die Blutzirkulation in seinem Arm nicht unterband.
Er rollte den Hemdsärmel nach unten. Er war zwischen Ellbogen und Manschette voll Blut. Dann zog er das Sakko wieder an. Zum Glück war es schwarz, so dass die Blutflecken nicht sofort zu sehen waren.
Je weiter sie in Kowloon nach Norden kamen, desto mehr nahmen die städtische Verschandelung und die Enge zu. Es war wie in jeder großen Stadt, dachte Bosch. Je weiter man sich vom Geld entfernte, desto schäbiger und trostloser wurde das Stadtbild.
»Was können Sie mir über Tuen Mun erzählen?«, fragte Bosch nach einer Weile.
»Sehr eng, sehr viel Menschen. Nur Chinesen. Ein heißes Pflaster.«
»Und eine Triaden-Hochburg?«
»Ja. Kein guter Ort für Ihre Tochter.«
Etwas anderes hatte Bosch nicht erwartet. Aber ein Gutes hatte die Sache doch. Wahrscheinlich war es schwer, ein weißes Mädchen unbemerkt dorthin zu bringen und zu verstecken. Wenn Madeline in Tuen Mun gefangen gehalten wurde, würde er sie finden.
Sie
würden sie finden.
31
I n den vergangenen fünf Jahren hatten sich Harry Boschs finanzielle Beiträge zur Unterstützung seiner Tochter darauf beschränkt, ihre Flüge nach Los Angeles zu bezahlen, ihr hin und wieder Taschengeld zu geben und jährlich einen Scheck über zwölftausend Dollar auszustellen, der die Hälfte ihres Schulgelds für die exklusive Happy Valley Academy abdeckte. Letzterer Beitrag war nicht die Folge
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