Harry Bosch 15 - Neun Drachen
Toilettenpapier auf die Einstichwunde gedrückt haben.
»Sie wäre sehr wertvoll, oder?«
»Ja.«
Bosch schloss die Augen. Plötzlich erschien alles in einem völlig anderen Licht. Unter Umständen hatten die Entführer keineswegs vor, seine Tochter nur so lange festzuhalten, bis er in Los Angeles Chang laufenließ. Unter Umständen planten sie, Madeline in eine Unterwelt aus lauter gleich düsteren Alternativen zu verkaufen, aus der sie nie mehr zurückkehren würde. Er versuchte, nicht an die verschiedenen Möglichkeiten zu denken. Er schaute aus dem Seitenfenster.
»Wir haben Zeit.« Das sagte er in dem vollen Bewusstsein, dass er mit sich selbst sprach, nicht mit Sun. »Noch ist ihr nichts passiert. Bevor sie aus L.A. nichts gehört haben, werden sie nichts tun. Selbst wenn sie vorhaben, sie nicht zurückzugeben, werden sie vorerst noch nichts unternehmen.«
Bosch wandte sich Sun zu, der zustimmend nickte.
»Wir werden sie finden.«
Bosch fasste an seinen Rücken und zog die Pistole hervor, die er einem der beiden Männer abgenommen hatte, die er im Chungking Mansions erschossen hatte. Er sah sie sich zum ersten Mal genauer an und wusste sofort, womit er es zu tun hatte.
»Ich glaube, Sie hatten recht, Sun. Diese zwei waren Vietnamesen.«
Sun warf einen kurzen Blick auf die Pistole, dann schaute er wieder auf die Straße.
»Bitte feuern Sie die Waffe nicht im Auto ab«, sagte er.
Trotz allem, was passiert war, musste Bosch grinsen.
»Keine Angst. Ist ja auch nicht mehr nötig. Wie man mit dem Ding umgeht, weiß ich bereits. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass der Kerl, dem sie gehört hat, eine Waffe einstecken hatte, die nicht funktioniert.«
Bosch hielt die Pistole in der linken Hand und visierte über ihren Lauf den Boden an. Dann untersuchte er sie noch einmal. Es war eine in Amerika hergestellte Colt, Kaliber .45, Modell 1911A1. Fast vierzig Jahre zuvor hatte er genau so eine Waffe als Soldat in Vietnam getragen. Wenn er in die unterirdischen Gänge hinabgestiegen war, um den Feind aufzuspüren und zu töten.
Bosch nahm das Magazin und die Kugel, die bereits im Patronenlager war, heraus. Ihm standen die vollen acht Schuss zur Verfügung. Er lud die Pistole mehrmals durch und wollte sie gerade neu laden, als er entdeckte, dass in das Magazin etwas eingeritzt war. Um besser sehen zu können, hielt er es dicht an seine Augen.
In den schwarzen Stahl des Magazins waren von Hand mehrere Buchstaben und Ziffern gekratzt, die aber Zeit und Gebrauch – das ständige Laden der Waffe – beinahe vollständig abgewetzt hatten. Als er die Oberfläche des Magazins schräg ins Licht hielt, konnte er
JFE
Sp4, 27th
lesen.
Das rief ihm sofort die pingelige Sorgfalt in Erinnerung, die damals alle Tunnelratten, wie die Mitglieder seiner Spezialeinheit genannt wurden, auf ihre Waffen und ihre Munition verwendet hatten. Wenn man mit nichts als seiner 45er, einer Taschenlampe und vier Reservemagazinen in das Dunkel der unterirdischen Gänge hinuntersteigen musste, prüfte man alles doppelt und dreifach. Wenn man da unten ganz auf sich allein gestellt war, wollte man nicht plötzlich feststellen müssen, dass man eine klemmende Waffe, feuchte Munition oder leere Batterien dabeihatte. Bosch und die anderen Tunnelratten hatten ihre Magazine markiert und gepflegt, wie andere Soldaten ihre Zigaretten und
Playboy
-Hefte hüteten.
Er studierte die Gravur sorgfältig. Wer auch immer JFE war, er hatte als Spec 4 bei der siebenundzwanzigsten Infanterie gedient. Demnach könnte er eine Tunnelratte gewesen sein. Bosch fragte sich, ob die Pistole irgendwo im Eisernen Dreieck in einem unterirdischen Gang zurückgelassen und ob sie aus JFE s kalter toter Hand genommen worden war.
»Wir sind da«, sagte Sun.
Bosch blickte auf. Sun hatte mitten auf der Straße angehalten. Hinter ihnen war kein Verkehr. Durch die Windschutzscheibe deutete Sun auf ein mit Staatsgeldern gebautes Wohnsilo, das so hoch war, dass Bosch sich unter die Sonnenblende ducken musste, um sein Dach sehen zu können. Hinter den offenen Außengängen waren die Eingangstüren und Fenster von schätzungsweise dreihundert Wohnungen zu sehen. Die Wäsche, die fast auf jedem Stockwerk zum Trocknen über den Geländern hing, verwandelte die triste Fassade des Gebäudes in ein farbenfrohes Mosaik, das es von den vollkommen gleich aussehenden Häusern absetzte, die links und rechts davon standen. Laut einem mehrsprachigen Schild über dem tunnelartigen
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