Harry Dresden 09: Weiße Nächte
triviale Dinge wie Geographie – sie gehorchten den Gesetzen der Vorstellungskraft, der Absicht und geordneter Gedanken. Selbst wenn Kutte hier war, würde er keinen Durchgang zum selben Ort schaffen können, an dem wir uns dann befinden würden, weil er einfach nicht wie ich dachte, wie ich fühlte oder meine Absichten und Ziele verfolgte.
Der Krieg gegen den Roten Hof hatte mich gelehrt, dass es eine gute Idee war, zurückzuweichen, wenn man nicht wirklich kämpfen musste. In der Tat hatte sogar der Merlin einen Befehl an die Wächter ausgegeben, genau das zu tun, um nicht noch weitere Kampfressourcen einzubüßen. Wenn wir noch länger blieben, würde niemand aus diesem Schlachthaus entkommen.
Thomas’ Schwert fuhr auf einen zuckenden Ghul herab, und er rief mit einer Verzweiflung, die an Wahnsinn grenzte: „Justine!“ Er fuhr herum. „Harry, hilf mir!“
Zu verduften war schlau.
Aber Thomas würde nicht einfach verschwinden. Nicht ohne Justine.
Also würde ich mich auch nicht verkrümeln.
Wenn man es recht betrachtete, befand sich in der Höhle eine ganze Menge Leute, die dort nicht hätten sein sollen, und es gab einige dringende Gründe, sie mitzunehmen. Diese Gründe machten das Wagnis um keinen Deut weniger gefährlich, und durch sie erschien allein der Gedanke daran um nichts weniger gruselig, doch das verscheuchte diese Gründe leider nicht.
Ohne Laras Friedensbemühungen (mit dem Strohmann in Gestalt ihres Vaters) würde sich der Weiße Hof entschiedener auf die Seite der Roten schlagen, als er es bisher schon getan hatte. Wenn ich Lara und ihre Marionette nicht hier herausschaffte, würde aus einem erbittert geführten Krieg ein Kampf ohne jegliche Aussicht auf Erfolg werden. Das war ein verflucht guter Grund zu bleiben.
Doch es war nicht der eigentliche Grund.
Ich sah, wie sich ein Ghul auf einen schutzlosen, hilflosen Sklaven stürzte und schloss kurz die Augen. Mir war bewusst, dass ich diese Höhle nie verlassen würde, ohne mein Bestes getan zu haben, möglichst viele zu retten. Oh, klar, höchstwahrscheinlich würde ich es lebendig hier heraus schaffen. Doch jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, würde ich mich wieder hier finden.
„Dresden!“, rief Marcone. „Ich habe mich bereiterklärt, Sie hier rauszuholen. Ich habe keinem Krieg zugestimmt!“
„Aber wir befinden uns hier in einem Krieg!“, brüllte ich zurück. „Wir müssen Raith in einem Stück hier herausschaffen, sonst war alles umsonst, und niemand wird Sie bezahlen.“
„Niemand wird mich bezahlen, wenn ich tot bin“, brummte Marcone.
Ich fauchte und trat näher heran, um Marcone ins Gesicht zu blicken.
Hendricks wälzte sich einen Schritt auf mich zu und grollte.
Murphy packte den riesengroßen Mann an einer gewaltigen Pranke, tat irgendetwas, das sein Handgelenk und seinen Zeigefinger beinhaltete, und mit einem Grunzen sank Hendricks vor Murphy, die einen seiner Arme in einem schmerzhaften Hebel hinter seinem Rücken fixiert hatte, auf ein Knie. „Immer langsam mit den jungen Pferden. Sonst tut sich noch jemand weh.“
„Keine Bewegung“, fauchte Marcone – aber in Richtung seiner Männer, nicht in meine. Er unterbrach kein einziges Mal den Blickkontakt zu mir. „Ja, Dresden?“
„Ich könnte Ihnen befehlen, es zu tun, weil ich Sie sonst auf dem Heimweg für immer im Niemalsland zurücklasse“, sagte ich leise. „Ich könnte Ihnen befehlen, mir zu helfen, weil ich sonst das Tor schließe und wir alle hier sterben. Ich könnte Ihnen befehlen, es zu tun, weil ich Sie sonst bei lebendigem Leibe einäschere. Aber das tue ich nicht.“
Marcones Augen verengten sich. „Nein?“
„Nein. Drohungen würden Sie nicht einschüchtern. Wir beide wissen das. Ich kann Sie zu nichts zwingen.“ Ich nickte in Richtung Höhle. „Menschen sterben hier. Helfen Sie mir, sie zu retten. Bitte!“
Marcones Kopf fuhr zurück, als hätte ich ihn geschlagen. Nach einem Augenblick fragte er: „Wer, glauben Sie, dass ich bin, Magier?“
„Jemand, der hier helfen kann“, sagte ich. „Vielleicht der einzige.“
Er starrte mich mit leeren, opaken Augen an.
Dann sagte er kaum vernehmbar: „Ja.“
Ich fühlte, wie sich ein wildes Grinsen über mein Gesicht ausbreitete und drehte mich zu Ramirez um. „Bleib hier und halte mit diesen Typen das Tor!“
„Wer sind diese Leute?“, fragte Ramirez.
„Später!“ Ich fuhr auf dem Absatz zu Marcone herum. „Ramirez gehört wie ich dem Rat an. Geben Sie ihm Deckung und
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