Harry Dresden 09: Weiße Nächte
mich, mir einzugestehen, dass mein Bruder, mein eigen Fleisch und Blut, in dieses Dilemma verstrickt sein konnte. Es war lodernder, irrationaler Zorn. Genau so irrational wie das Gefühl, Murphy hätte mich mit dieser dezenten Anschuldigung verraten. Diese beiden Emotionen stachelten einander an, peitschten sich in Windeseile gegenseitig auf. Das erwischte mich völlig auf dem falschen Fuß. Noch nie hatte mich eine so sprunghafte Entschlossenheit übermannt, eine Bedrohung für Thomas zu vernichten, wenn man einmal von den Kämpfen um Leben und Tod absieht, in die wir immer wieder gestolpert waren. Dieses Gefühl durchbrandete mich wie ein Strom aus geschmolzenem Stahl, und ich ertappte mich, wie ich unter seinem sengenden Einfluss unbewusst meinen Willen bündelte. Eine Sekunde lang wollte ich einfach nur Dinge zu Staub zermalmen, beginnend mit jedem, der auch nur daran dachte, Thomas ein Haar zu krümmen, und die Macht, dies zu tun, brandete in mir hoch wie Dampf in einem Kessel.
Ich knurrte und schloss die Augen. Ich bekam mich wieder unter Kontrolle. Dies war kein Kampf um Leben und Tod. Dies war ein Bürgersteig. Ich konnte meinem Zorn nicht auf befriedigende und vor allem laute Art und Weise freien Lauf lassen, doch die Energien, die ich unbewusst in mir angesammelt hatte, hatten immer noch das Potential, Schaden anzurichten. Ich kauerte mich hin, um mit den Fingerspitzen über den Bürgersteig zu streichen um damit die gefährlich angestaute Magie harmlos in die Erde abzuleiten und zu erden. Nur ein kleiner Bruchteil der schädlichen Energien entwich, um Unfug zu stiften.
Er rettete uns das Leben.
Sobald ich die überschüssige Energie in das Gebiet um uns entlassen hatte, brannte in unserer Nähe eine Ampel durch, und Murphys Handy begann, „Stars and Stripes Forever“ zu dudeln. Die Alarmanlagen dreier Autos schlugen an …
… und Murphys Saturn Coupé verwandelte sich mit einem ohrenbetäubenden Donnern in einen gleißenden Feuerball.
7. Kapitel
W ir hatten nicht die Zeit, auch nur das Geringste zu tun. Selbst wenn ich mit angespannten Muskeln sprungbereit mit einem Schutzzauber auf den Lippen da gekauert hätte, wäre ich dem Aufprall der Druckwelle der Explosion nicht zuvorgekommen. Doch die Detonation ereignete sich mit voller Gewalt von einem Augenblick auf den nächsten, und es war ihr schnurzpiepegal, ob ich vorbereitet war oder nicht. Irgendetwas, das sich vage so anfühlte wie ein gigantisches Daunenkissen, dass der unglaubliche Hulk schwang, schmetterte gegen meine Brust.
Es riss mich in die Luft und trümmerte mich einige Meter weiter hinten auf den Bürgersteig. Meine Schulter donnerte im Vorbeisegeln gegen einen Briefkasten, und dann bot sich mir ein prächtiger Ausblick auf den klaren Sommerhimmel, als ich auf dem Rücken lag und mir alles wehtat.
Ich war am Leben, was in derartigen Situationen immer ein ausgezeichneter Ausgangspunkt war. Es konnte sich also nicht um eine riesengroße Explosion gehandelt haben. Wahrscheinlich eher eine Brand- als eine Splitterbombe, der gute, alte Feuerball, der vermutlich Fenster eingedrückt, Dinge angekokelt und jede Menge Luft verdrängt hatte, zusammen mit einem gewissen Harry Dresden, Magier, leicht gebraucht.
Ich setzte mich auf und blickte zu der fauchenden Wolke aus dunklem Rauch und roten Flammen hinüber, in der sich Murphys Saturn befand, was mich in meiner Annahme bestätigte. Ich schielte zur Seite und sah, wie sich Murphy langsam aufsetzte. Ihre Unterlippe war aufgeplatzt und blutete. Sie blinzelte blass und verdattert aus der Wäsche.
Ich konnte einfach nicht anders, ich begann, wie ein Besoffener zu lachen.
„Na gut“, verkündete ich. „Unter den gegebenen Umständen bin ich gezwungen zuzugeben, dass du recht hattest. Ich bin ein Kontrollfreak, und du hattest zu hundert Prozent recht, dass es das Beste war, wenn du den Wagen fährst. Danke!“
Sie warf mir einen bedeutungsschwangeren Blick zu, atmete tief durch und zischte durch aufeinander gepresste Zähne: „Kein Problem.“
Ich lachte und legte mich mit dem Rücken wieder auf den Asphalt. „Alles klar bei dir?“
Sie tupfte sich mit einer Hand auf die blutende Lippe. „Glaube schon. Was ist mit dir?“
„Bin mit einer Schulter gegen einen Briefkasten geknallt“, antwortete ich. „Das tut etwas weh. Aber nicht sehr. Eventuell genehmige ich mir ein Aspirin. Aber nur eins. Nicht die ganze Packung oder so.“
Sie seufzte. „Mein Gott, du bist ein Jammerlappen,
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