Harry Dresden 09: Weiße Nächte
an“, schlussfolgerte Murphy, „und ist auch kein Mitglied der, äh, Gemeinde?“
„Meines Wissens nicht“, antwortete Anna. Sie sah sich um. „Kennt sie hier jemand?“
Stille.
Ich wechselte einen Blick mit Murphy. „In diesem Fall gibt es Unterschiede.“
„Ja, und Gemeinsamkeiten“, antwortete sie.
„Zumindest ein Punkt, an dem wir ansetzten können“, sagte ich.
Irgendwo begann eine Armbanduhr zu piepsen, und das Mädchen auf der Couch neben Priscilla setzte sich ruckartig auf. Sie war jung, höchstwahrscheinlich noch ein Teenager, mit der dunklen, rauchigen Hautfarbe, die für den Osten Indiens so typisch ist. Sie hatte braune Augen mit dichten Wimpern und trug ein Stirnband über ihrem glänzenden, glatten, schwarzen Haar. Sie war in ein violettes Tanztrikot gekleidet, zu dem sie cremefarbene Leggins trug, die ihre langen Beine bedeckten. Sie hatte die muskulöse, athletische Figur einer Profitänzerin. Sie trug eine Herrenuhr, die an ihrem delikaten Arm riesig wirkte. Sie drehte den Alarm ab, rutschte auf der Couch herum und sah Anna an. „Zehn Minuten.“
Anna runzelte die Stirn und nickte ihr zu. Dann setzte sie sich zur Tür in Bewegung, eine freundliche Gastgeberin, die uns höflich nach draußen bat. „Können wir noch etwas für Sie tun, Wächter? Miss Murphy?“
Unter Profis im Ermittlungsgeschäft gilt es als Hinweis, wenn jemand einen zum Gehen drängt, um Information zu verschleiern. „Meine Güte“, rief ich fröhlich. „Was passiert denn in zehn Minuten?“
Anna blieb stehen, und ihr höfliches Lächeln verschwand. „Wir haben Ihre Fragen beantwortet. Sie haben mir Ihr Wort gegeben, Wächter, sich an die Gesetze meiner Gastfreundschaft zu halten. Sie nicht zu missbrauchen.“
„Mir zu antworten wäre in Ihrem eigenen Interesse“, antwortete ich.
„Das ist Ihre Meinung“, sagte sie. „Meiner Meinung nach geht es Sie nichts an.“
Ich seufzte und nickte. Ich reichte ihr meine Visitenkarte.
„Hier ist meine Nummer. Falls Sie sich anders entscheiden.“
„Danke“, sagte Anna höflich.
Murphy und ich machten uns von dannen und schwiegen während der gesamten Fahrt mit dem Aufzug nach unten. Dunkle Gewitterwolken bildeten sich über meinem Kopf, und ich schwelgte in finsteren Gedanken. Das hatte zwar in der Vergangenheit noch nie eines meiner Probleme gelöst, aber es gab schließlich für alles ein erstes Mal.
Als wir nach draußen in den Sonnenschein traten, fragte Murphy: „Glaubst du, sie wissen sonst noch etwas?“
„Die wissen irgendetwas“, bestätigte ich. „Zumindest glauben sie es.“
„Das war eine rhetorische Frage, Harry.“
„Leck mich.“ Ich schüttelte den Kopf. „Was nun?“
„Wir stöbern in Jessica Blanches Hintergrund herum“, entgegnete sie. „Sehen mal, was uns da ins Auge sticht.“
Ich nickte. „Das ist auf jeden Fall leichter, als Chicago auf der Suche nach Typen in grauen Umhängen auf den Kopf zu stellen.“
Sie blieb stehen, und ich kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie ihre nächsten Worte mit Bedacht wählte. „Aber vielleicht nicht einfacher als bleiche, gutaussehende, dunkelhaarige Männer zu finden, die vielleicht die letzte Person sind, mit denen eine Frau gesehen wurde, die am Höhepunkt sexueller Ekstase verstarb.“
Für eine Weile hörte man nur unsere Schritte.
„Er war’s nicht“, sagte ich dann. „Er ist mein Bruder.“
„Sicher“, stimmte sie zu.
„Ich meine, klar, ich habe schon eine ganze Weile nicht mehr mit ihm gesprochen“, gab ich zu. Einen Augenblick später fügte ich hinzu: „Er lebt jetzt allein. Er verdient echt gutes Geld mit … irgendwas. Auch wenn ich keine Ahnung habe, womit. Weil er in dieser Hinsicht schweigt wie ein Grab.“
Murphy nickte. „Ja.“
„Ich denke, es entspricht auch den Tatsachen, dass er dieser Tage verdammt gut genährt ist“, fuhr ich fort, „und dass er mir nicht verrät, wie er das anstellt.“ Wir gingen ein paar weitere Schritte. „Er hält sich für ein Monster und hat die Schnauze voll von dem Versuch, sich wie ein Mensch zu verhalten.“
Wir überquerten schweigsam die Straße.
Auf der anderen Seite blieb ich stehen und sah Murphy an.
„Scheiße.“
Wir schlenderten den Bürgersteig entlang zu ihrem Saturn.
„Harry“, sagte sie leise. „Ich denke, du hast hinsichtlich deines Bruders wahrscheinlich recht. Aber es stehen Menschenleben auf dem Spiel. Wir müssen auf Nummer sicher gehen.“
Wut durchfuhr mich, und ich weigerte
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