Harry Dresden 09: Weiße Nächte
Macht. Ich zögerte nicht. „Ich schwöre Ihnen bei meiner Macht, mich als Ihr Gast an die Regeln der Gastfreundschaft zu halten, weder Ihnen noch den Ihren Leid zuzufügen oder meine Hilfe zu verweigern, wenn diese dadurch zu Schaden kämen.“
Sie stieß einen angespannten Atemzug aus und nickte. „Sehr gut. Ich verspreche, mich wie eine Gastgeberin zu verhalten, mit allen Pflichten, die dies beinhaltet – und nennen Sie mich bitte Anna.“ Sie betonte den Namen wie in der guten Alten Welt: Ah-nah. Sie winkte mit einer Hand und führte uns in die Wohnung. „Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich keine namentlichen Vorstellungen mache.“
Verständlich. Ein voller Name von den eigenen Lippen bot einem Magier oder talentierten Hexer eine Verbindung, einen Bezugspunkt, den er nutzen konnte, um alle möglichen schädlichen, ja sogar tödlichen Zauber zu senden. Fast wie frisches Blut, Nagelschnipsel oder eine Haarlocke. Es war fast unmöglich, seinen wahren Namen in einem Gespräch achtlos preiszugeben, doch das war auch schon passiert, und falls jemand den Verdacht hegte, dass ein Magier einen Spruch gegen ihn schicken wollte, war er besser verdammt vorsichtig, wenn es darum ging, den eigenen Namen auszusprechen.
„Kein Problem“, versicherte ich.
Annas Wohnung war um einiges schöner als die meisten und offensichtlich ein oder zwei Jahre zuvor komplett renoviert worden. Die Fenster boten einen einigermaßen angenehmen Ausblick, und die Möbel waren großteils aus Echtholz hervorragendster Qualität.
Im Wohnzimmer saßen fünf Frauen. Abby hatte einen hölzernen Schaukelstuhl mit Beschlag belegt und hielt ihren kleinen Yorkie mit seinen glitzernden Augen auf ihrem Schoß. Helen Beckitt stand an einem Fenster und starrte lustlos auf die Stadt hinaus. Zwei weitere Frauen saßen auf einer Couch, die dritte auf einem knautschigen Polstersessel schräg gegenüber.
„Darf ich annehmen, dass Sie wissen, wer ich bin?“, fragte ich sie.
„Ja“, sagte Anna ruhig.
Ich nickte. „Gut. Folgendes weiß ich. Jemand hat bis zu fünf weibliche Zauberkundige getötet. Einige dieser Todesfälle sahen auf den ersten Blick wie Selbstmorde aus. Mehrere Beweisstücke deuten aber darauf hin, dass dem nicht so war.“ Ich atmete tief ein. „Ich habe eine Botschaft gefunden, die man bei zumindest zwei dieser Leichen für mich oder jemanden wie mich zurückgelassen hatte. Botschaften, die die Polizei nie hätte finden können. Ich glaube, wir haben es mit einem Serienmörder zu tun und bin weiterhin der Meinung, dass der Ordo eine Gruppe von Opfern darstellt, die in sein …“
„Oder ihr“, warf Murphy ein, die Beckitt schon beinahe anstarrte.
Beckitts Mund verzog sich zu einem kläglichen, bitteren Lächeln, auch wenn sie sonst nicht die geringste Regung zeigte.
„Oder ihr“, gestand ich ein, „Beuteschema passt.“
„Meint er das ernst?“, fragte eine Frau, die ich nicht kannte. Sie war älter als die anderen, Anfang fünfzig. Trotz der Wärme des Tages trug sie einen hellgrünen Rollkragenpullover unter einer dunkelgrauen Strickweste. Ihr Haar, das zu einem strengen Dutt geflochten war, war einst kupferrot gewesen, auch wenn es jetzt von stahlgrauen Strähnen durchsetzt war. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, und eine Brille mit einem eckigen, silbernen Rahmen prangte vor schlammbraunen Augen auf ihrer Nase. Ihre Brauen waren buschiger, als die meisten Frauen es zugelassen hätten.
„Sehr“, erwiderte ich. „Wie darf ich Sie nennen? Ich halte es für unhöflich, Sie mit Rollkragen anzureden, ohne vorher nachgefragt zu haben.“
Ihre Haltung wurde steifer, und sie gab sich alle Mühe, Blickkontakt mit mir zu meiden. Dann sagte sie: „Priscilla.“
„Priscilla. Ich tappe hier ziemlich im Dunkeln. Ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht, und deshalb bin ich hier, um mit Ihnen zu sprechen.“
„Wie haben Sie dann vom Ordo erfahren?“, bohrte sie nach.
„Im echten Leben bin ich Privatdetektiv“, erklärte ich ihr. „Ich ermittle Kram.“
„Er lügt“, sagte Priscilla mit einem Blick zurück zu Anna. „Er muss lügen. Du weißt, was wir gesehen haben.“
Annas Blick schweifte von Priscilla zu mir, dann schüttelte sie den Kopf. „Das glaube ich nicht.“
„Was haben Sie denn gesehen?“, fragte ich Anna.
Anna sah sich im Raum um, doch als von den anderen keine Einsprüche kamen, wandte sie sich wieder mir zu.
„Sie haben recht. Mehrere Mitglieder unseres Ordens sind
Weitere Kostenlose Bücher