Harry Dresden 11: Verrat: Die dunklen Fälle des Harry Dresden (German Edition)
Bergspitze war kahl, ohne Baumbestand. Aber einen alten, aus Felsen erbauten Turm gab es hier, der früher als Leuchtturm gedient hatte. Eigentlich stand der Turm nur noch zu drei Vierteln, der Rest war zusammengebrochen und man hatte die Steine direkt daneben zum Bau einer kleinen Hütte verwendet.
Hier oben war die Gegenwart der Insel sehr deutlich zu spüren. Ein vor sich hin brütendes, gefährliches Wesen, das sich aus Besuchern so ganz und gar nichts machte.
Der Mond schien. Ich sah mich auf der Bergkuppe um, nickte einmal und marschierte zu einer ebenen Stelle vor der Hütte, wo ich meinen Kasten auf dem Boden abstellte.
Das Ritual, an dem ich mich versuchen wollte, hatte seinen Ursprung in uraltem Schamanentum. Bei diesem Ritual begab sich der Schamane eines Stammes – oder auch der Medizinmann, der Geistrufer oder wer sonst zuständig war – zu einem Platz in der Wildnis in der Nähe des Stammesdorfes oder Lagers, der Kraft und Präsenz ausstrahlte. Dort rief der Kundige nach den jeweiligen Gebräuchen seiner Kultur den Geist des Ortes an und erregte dessen Aufmerksamkeit. Was dann folgte, vereinte Grundelemente verschiedener Rituale in sich, war teils Vorstellung, teils Herausforderung, teils Abstecken eines Claims auf den Ort, an dem man sich befand, teils Kräftemessen zwischen zwei Wesen mit starkem Willen. War das Ritual erfolgreich, so entstand eine Art Partnerschaft unter Gleichrangigen zwischen dem Schamanen und dem örtlichen Genius loci.
War das Ritual nicht erfolgreich – na ja. Die volle Aufmerksamkeit eines gefährlichen Geistes zu erregen, der die Umgebung kontrollierte, in der man sich gerade befand, konnte böse nach hinten losgehen. Dieser Geist, der durch die dunkle Energie der unter dem Turm verlaufenden Ley-Linie noch zusätzlich Kraft gewann, würde mich mühelos in den Wahnsinn treiben oder als Futter für seine Tiere und Pflanzen recyceln können. In der Lage dazu war er allemal.
„Trotzdem bin ich hier, um dich zu verprügeln“, murmelte ich finster. „Ganz schön kühn, was?“
Ich legte meinen Stab ab und öffnete den Kasten.
Zuerst der Kreis. Mit einem Handfegerchen entfernte ich in einem Umkreis von einem Meter Durchmesser Dreck und Staub vom Felsplateau unter meinen Füßen. Als Nächstes nahm ich den großen Holzzirkel mit der Kreide daran – manche werden den noch aus dem Geometrieunterricht in der Schule kennen – und malte mit Leuchtkreide einen perfekten Kreis auf den Stein. Ein Kreis musste nicht perfekt rund sein, um zu funktionieren, aber es erhöhte schon die Effizienz, und momentan konnte ich jeden Vorteil gebrauchen.
Dann waren fünf weiße Kerzen an der Reihe, die ich mit Hilfe eines Kompasses korrekt ausrichten wollte. Nur drehte sich die Kompassnadel wie wild – höchstwahrscheinlich schickten die von der nahen Ley-Linie verursachten Turbulenzen sie auf Irrfahrt. Ich legte das nutzlose Ding also beiseite, visierte den Polarstern an und stellte die Kerzen auf dem Kreis zu einem Pentagramm auf, dessen Spitze direkt nach Norden zeigte.
Ein echtes, altes KA-BAR-Messer der UNS-Kriegsmarine, ein schlichter, silberner Kelch und eine silberne Glocke mit schwarzem Holzgriff, die früher einmal der Heilsarmee gehört hatte, vervollständigten das Ensemble.
Nachdem ich alle Objekte und den Kreis einmal, zweimal und zur Sicherheit noch ein drittes Mal überprüft hatte, trat ich zur Seite, entledigte mich sämtlicher Kleidungsstücke und legte meine Ringe, das Armband und, bis auf das silberne Pentakel um meinen Hals, auch alle anderen magischen Ausrüstungsgegenstände ab. Es war nicht zwingend notwendig, das Ritual im Adamskostüm durchzuführen, aber so verringerte sich das Risiko, dass ein Zauber auf einem meiner Ausrüstungsgegenstände eine Störung verursachte. Störungen, und mochten sie auch noch so gering sein, konnte ich echt nicht gebrauchen.
Die ganze Zeit wuchs der Druck, den das Bewusstsein der Insel auf mich ausübte, verdoppelte sich einmal, noch einmal, noch einmal. In meinem Schädel klopfte und hämmerte es, was bei den frischen Beulen außen am Kopf besonders gut kam. Mir standen die Haare zu Berge. Ein Schwarm Mücken hatte mich entdeckt und surrte um mich herum. Nur mit Schaudern vermochte ich mir auszumalen, wo die mich überall hinstechen konnten, während ich gezwungen war, mich auf das Ritual zu konzentrieren.
Nackt und mückenumschwirrt ging ich zum Kreis, überprüfte alles noch einmal, holte mir aus dem Ritualkasten eine
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