Harte Schule
gewartet, bis ich einschlief. Womöglich hatte er ein Wiegenlied gesungen.
Eine Klinke klackte, eine Tür klappte. Ich sammelte meinen Willen und setzte mich senkrecht. Oje! Meine Handgelenke waren blau und rot gequetscht, das rechte Ellbogengelenk sperrte. Auf meinem Schenkel glühte ein Hämatom, dessen Herkunft mir nicht klar war. Dafür hatte ich ein weißes Hemd an, das mich zu meiner Beruhigung ausreichend bedeckte.
Richard stand in einem gestreiften Bademantel in der Küche und hielt sich am Kaffeebecher fest.
»Wie spät?«
»Halb neun. Wie geht es dir?«
»Kalt.«
Er schwieg betreten und unternahm keinen Versuch, die symbolische Kälte wegzudiskutieren mittels Hinweisen auf heißen Kaffee, eine heiße Dusche und heiße Heizkörper.
Der Spiegel im Bad war noch beschlagen, der Duschvorhang troff. Heißes Wasser prasselte aus dem Duschkopf. Vom Fensterbrett nahm ich ein Duschgel, das zunächst ein Aroma von Zeder und Heidekraut entfaltete, bevor der nicht fassbare Duft des Schleichkatzensekrets Zibet eine untergründig ordinäre Männlichkeit heraufgeistern ließ. In Richards weißem Oberhemd kehrte ich in die Küche zurück. Er stand immer noch an der Kaf feemaschine und rauchte.
»Hast du was zum Anziehen für mich? Ich mag meine Klamotten von gestern nicht mehr.«
»Aber natürlich, klar, selbstverständlich.« Er löschte die Zigarette.
Das schmale Bett in der Mönchszelle, die er vermutlich Schlafzimmer nannte, war schon bedeckt. Der dunkel gebeizte Schrank mit den Jugendstilschnitzereien enthielt auf den ersten Blick nicht viel mehr als ein halbes Dutzend bräunlicher Anzüge, ein Dutzend Hemden, einige Paar Schuhe, weinrote Socken, Krawatten und Unterwäsche. Richard starrte ratlos hinein. So ging das nicht. Er blickte mich an. Die Selbstgefälligkeit, die sonst sein Figürchen straffte, war ihm abhandengekommen. Kaum berührte ich ihn, schlang er die Arme um mich. Sein Atem fuhr mir heiß in den Kragen.
»Es tut mir so leid«, flüsterte er.
Ich griff ihm ins Nackenhaar und küsste ihn mit Zunge und allem. Er antwortete mit dem ganzen Körper.
»Und wo lagerst du deine Sportklamotten?«, erkundigte ich mich.
»Oh! Entschuldige … Im Schrank im Gästezimmer.«
»Fang dich!«, sagte ich. »Ich lebe noch.«
Er zog mich erneut an sich, erregt wie ein Schuljunge. Er war so durcheinander, dass er tröstende Zärtlichkeit und Begierde nicht mehr auseinanderhalten konnte. Als es ihm bewusst wurde, ließ er mich beschämt los. Er würde Zeit brauchen einzusehen, dass er nicht für alles verantwortlich war, wofür er die Verantwortung übernahm.
Im Gästezimmer hatte ich die Wahl zwischen zwei dunkelblaugrauen Trainingsanzügen und einer Sammlung weißer Tennissocken. Inzwischen hatte Richard Kaffeetassen, Teller und ein Sammelsurium von Butter, Quittengelee und Brombeermarmelade aus Mutters vorletztjähriger Ernte und einem Paket Knäckebrot auf den Küchentisch gestellt. Er rauchte offenbar lieber statt zu frühstücken, unterließ es aber, weil ich mich hungrig über die Notration hermachte.
»Musst du nicht ins Amt?«, fragte ich, als eine Kirchturmuhr neun schlug.
»Der Generalstaatsanwalt braucht mich nicht, um der Presse die ganze Scheiße als Fahndungserfolg zu präsentieren.«
»Gehe ich recht in der Annahme, dass ich meine Rettung Isolde verdanke? Sie hat dich doch noch angerufen.«
»Wenn du so willst.«
»Nicht ich, du hast es so gewollt. Meine Vorführung beim Ermittlungsrichter war doch wohl von vornherein auf Haftverschonung angelegt. Du hast die Judo-Connection so schlau genutzt, dass ich dachte, so blöd könntest du doch gar nicht sein. Du wolltest Christoph Weininger und alle, mit denen er zu tun hat, darüber hinwegtäuschen, dass wir zusammenarbeiten.«
»Ich wollte vor allem verhindern, dass Beckstein dich … dass sie dich in die Finger kriegt.«
»Dann hätte ich nach meiner Freilassung wohl überall mit einem Taxi hinfahren müssen, damit deine Leute mich nicht aus den Augen verlieren. Der Posten auf dem Bahnsteig vor meiner Wohnung muss ganz schön in Hektik geraten sein, als ich in der Straßenbahn vorbeifuhr. Einer Straßenbahn zur Hauptverkehrszeit mit einem Auto folgen, das ist nahezu unmöglich.«
»Wir haben allerdings vermutet«, sagte Richard, »dass du nach Münster fuhrst. Weiningers Leute haben dich dort auch mit den Jugendlichen gesehen.«
»Weiningers Leute? Und die haben mich dann absichtlich aus den Augen verloren, oder wie? Komm, lass dir nicht
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