Harter Schnitt
überstehen. Für den Augenblick hat Sara sie stabilisiert. Ich mache mir Sorgen, dass sie nicht gut genug auf sich achtet.«
Darüber machte Will sich ebenfalls Sorgen. Er hatte immer geglaubt, Faith sei unzerstörbar. Sie schien in der Lage zu sein, mit jeder Krise umzugehen. Vielleicht kam es daher, dass sie Mutter geworden war, bevor sie bereit dazu war. Mrs. Levys Worte über den Schwangerschaftsskandal, der das Viertel erschütterte, gingen ihm immer wieder durch den Kopf. Faith hatte offensichtlich einiges an Schande zu ertragen gehabt. Sie war errötet, als sie Sara erzählte, was ihre Mutter gesagt hatte, um ihr ein wenig von dem schlechten Gewissen zu nehmen. Faith’ ganzes Leben war durch die Schwangerschaft zerstört worden. Irgendwie hatte sie es geschafft, die Stücke zusammenzuklauben. Evelyn war für sie da gewesen und hatte ihre Unterstützung angeboten, aber Faith hatte die schweren Lasten allein gestemmt. Sie hatte ihren Schulabschluss gemacht. War auf die Polizeiakademie gegangen. Und dann noch einmal zurück aufs College. Sie hatte ihren Jungen großgezogen. Sie war eine der stärksten Frauen, die Will kannte. In mancherlei Hinsicht war sie sogar noch stärker als Amanda.
Und sie hatte ein Recht auf die Wahrheit.
Will flüsterte: » Warum haben Sie Faith vorgelogen, ihr Vater wäre ein Spieler gewesen?«
Amanda antwortete nicht.
Er wollte eben die Frage wiederholen. » Warum haben Sie…«
» Weil er einer war«, sagte Amanda. » Ich denke, nach heute Morgen sollten Sie wissen, dass ein Mann auch mit anderen Dingen spielen kann als mit Geld.«
Will schluckte den letzten Rest Speichel in seinem Mund. Im Augenblick hatte er keine Lust auf Amandas Rätsel. » Evelyn hat sich schmieren lassen.«
» Vor langer Zeit machte sie einen großen Fehler, und seitdem bezahlt sie dafür.«
Er musste sich jetzt anstrengen, um leise zu sprechen. » Sie hat Geld genommen…«
» Ich nehme Ihnen jetzt ein Versprechen ab, Will. Wenn wir Evelyn aus diesem Schlamassel herausbekommen, dann wird sie Ihnen die ganze Wahrheit über alles sagen. Sie kriegen eine ganze Stunde mit ihr. Sie wird jede Frage beantworten, die Sie haben.«
Er schaute im Kofferraum zu dem Lichtstrahl, der durch die rissige Gummidichtung fiel. » Und wenn nicht?«
» Dann ist es nicht mehr wichtig, oder?« Im Hintergrund hörte er Stimmen. » Ich muss jetzt Schluss machen. Ich rufe Sie an, wenn ich Neuigkeiten habe.«
Will verschob das Gewehr, damit er den Anruf beenden konnte. Er schloss die Augen und versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Schweiß lief ihm den Rücken hinab. Er brannte an der Stelle unten am Kreuz, wo Sara ihn gekratzt hatte.
Er schüttelte den Kopf, um das Bild aus seinem Kopf zu bekommen, damit das Gewehr nicht Klage wegen sexueller Belästigung gegen ihn erheben konnte. Er stellte sich vor, wie das Gewehr im Zeugenstand saß und sich mit dem Abzug eine Träne vom Visier wischte.
Er schüttelte wieder den Kopf. Die Hitze machte ihm wirklich zu schaffen. Um sich zu konzentrieren, ging er den Fall noch einmal durch. Amanda wollte immer, dass er ihr alles von Anfang an erzählte. So konnten sie am besten erkennen, was sie übersehen hatten. In der Hitze des Augenblicks war es schwierig, die einzelnen Puzzleteile zusammenzufügen. Jetzt rekapitulierte er Schritt für Schritt die letzten Tage, betrachtete die Fakten aus allen Blickwinkeln und dachte noch einmal an die Lügen und Halbwahrheiten, die die bösen Jungs ihnen erzählt hatten, wie auch an die Lügen und Halbwahrheiten, die Amanda ihnen aufgetischt hatte.
Wie schon zuvor kehrten Wills Gedanken immer wieder zu Chuck Finn zurück. Es war ein Eliminierungsprozess. Chuck war der einzige Mann aus Evelyns früherem Team, der übrig blieb. Er war zusammen mit Hironobu Kwon in Healing Winds gewesen. Und offensichtlich kannte er Roger Ling, der ihn Chuckleberry Finn nannte.
Roger hatte auch davon gesprochen, dass man den Kopf der Schlange abschlagen müsse. Es musste eine Person geben, die das Sagen hatte. Und das konnte sehr gut Chuck Finn sein. Motive hatte er genug. Er hegte einen persönlichen Groll gegen Evelyn Mitchell, weil sie ihn verraten hatte. Sein Leben im Gefängnis war nicht gerade ein Honigschlecken gewesen. Aus dem ehemals hoch angesehenen Polizeibeamten war ein Mann geworden, der unter der Dusche hinter sich schauen musste.
Wahrscheinlich hatte der Mann seine Sucht im Knast entwickelt. Heroin und Crack waren teuer. Auch wenn Chuck
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