Harter Schnitt
herholen? Vielleicht könnten die beiden mit ihm reden.«
Sie schüttelte den Kopf. » Paul wurde vor zehn Jahren im Dienst erschossen. Sandra starb letztes Jahr. Leukämie. Sie brauchte eine Knochenmarktransplantation und musste ihrem Sohn erklären, warum er kein Spender sein konnte.« Sie wandte sich wieder Will zu. » Er schaute sich zuerst die Familie seines Vaters an. Schätze, Sandra dachte, dass es so einfacher ist. Hector lud ihn zu sich ein. So traf er Ricardo, und so kam er zu den Los Texicanos. Er fing an, Drogen zu nehmen. Zuerst Gras, dann Heroin, und dann gab’s kein Zurück mehr. Evelyn und Hector schickten ihn immer wieder in die Klinik, ohne dass es viel brachte.«
Will spürte ein Brennen in den Eingeweiden. » Healing Winds?«
Sie nickte. » Zumindest beim letzten Mal.«
» Dort lernte er Chuck Finn kennen.«
» Ich kenne die Details nicht, aber ich kann es mir vorstellen.«
Wenn Will dies zuvor gewusst hätte, hätte er Faith auf keinen Fall allein in dieses Haus gehen lassen. Er hätte sie gefesselt und Amanda in Mrs. Levys Kofferraum gesteckt. Er hätte SWAT -Teams von jeder Polizeieinheit des Landes angefordert.
Amanda sagte: » Na los, machen Sie schon, lassen Sie alles raus.«
Will hatte bereits genug Zeit damit verschwendet, sie anzuschreien. » Wie sieht die Rückseite des Hauses aus?«
Sie verstand die Frage nicht. » Was?«
» Die Rückseite des Hauses. Faith steht in der Tür zum Wohnzimmer. Sie schaut in das Zimmer. Die ganze Rückwand besteht aus Fenstern und einer Glas-Schiebetür. Sie sagten, die Vorhänge seien zugezogen. Sie sind aus dünner Baumwolle. Kann man irgendwas wie Schatten oder Bewegungen erkennen?«
» Nein. Draußen ist es zu hell, und drinnen brennt kein Licht.«
» Wann soll das SWAT -Team hier sein?«
» Woran denken Sie?«
» Wir brauchen den Hubschrauber.«
Dieses eine Mal stellte sie keine Fragen, griff zum Funkgerät und ließ sich direkt mit dem SWAT -Kommandanten verbinden.
Will drückte das Auge an den Sucher, während Amanda die Anforderung besprach. Faith stand noch immer in der Tür. Sie redete nicht mehr. » Gibt es einen besonderen Grund, warum Sie mir nicht sagten, dass Evelyn ein Kind mit Hector Ortiz hatte?«
» Weil es Faith umgebracht hätte«, erwiderte Amanda, anscheinend ohne die Ironie zu erkennen. Ihre nächsten Worte waren eher an Roz gerichtet. » Und Evelyn wollte nicht, dass irgendjemand es wusste, weil es niemanden etwas anging.«
Will zog sein Handy heraus.
» Was tun Sie?«
» Ich rufe Faith an.«
20 . Kapitel
F aith’ Handy vibrierte in ihrer Tasche. Sie rührte sich nicht. Sie starrte einfach nur ihre Mutter an. Tränen liefen Evelyn übers Gesicht.
» Ist okay«, sagte Faith zu ihr. » Ist unwichtig.«
» Ist unwichtig?«, wiederholte der Mann. » Vielen Dank, Schwesterherz.«
Bei dem Wort zuckte Faith zusammen. Wie blind sie doch gewesen war. Wie selbstsüchtig. Jetzt ergab alles einen Sinn. Der lange Urlaub, den ihre Mutter sich genommen hatte. Die ausgedehnten Geschäftsreisen und das mürrische Schweigen ihres Vaters. Evelyns zunehmender Bauchumfang, obwohl sie zuvor noch nie übergewichtig gewesen war. Der Urlaub, in den sie zusammen mit Amanda im Monat vor Jeremys Geburt gefahren war. Faith war stinksauer gewesen, als Evelyn nach fast acht Monaten gemeinsamer Isolation verkündet hatte, sie werde mit Tante Mandy für eine Woche an den Strand fahren. Faith hatte sich verraten gefühlt. Sie hatte sich im Stich gelassen gefühlt. Und jetzt kam sie sich so dumm vor.
Erinnere dich an unsere gemeinsame Zeit, bevor Jeremy …
Das hatte Evelyn in dem Video gesagt. Sie wollte damit Faith einen Hinweis geben, nicht einfach nur in Erinnerungen schwelgen. Erinnere dich an diese Zeit. Versuche, dir wieder ins Bewusstsein zu rufen, was damals wirklich vor sich ging – nicht nur mit dir, sondern auch mit mir.
Damals war Faith so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie sich nur für ihr eigenes Leben, ihr eigenes zerstörtes Leben, ihre eigenen verlorenen Chancen interessierte. Wenn sie jetzt zurückblickte, sah sie die offensichtlichen Zeichen. Evelyn ging tagsüber nicht mehr aus dem Haus. Sie ging nicht an die Tür. Sie stand bei Tagesanbruch auf, um in einem Laden am anderen Ende der Stadt einkaufen zu gehen. Das Telefon klingelte sehr oft, aber Evelyn ging nie dran. Sie isolierte sich. Sie kapselte sich von der Welt ab. Sie schlief auf der Couch, nicht im Ehebett. Außer mit Amanda redete sie mit
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