Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Harter Schnitt

Harter Schnitt

Titel: Harter Schnitt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
Vom Netzwerk:
niemandem, traf sich mit niemandem, suchte zu niemandem Kontakt. Und währenddessen gab sie Faith das, wonach jedes Kind sich insgeheim sehnt: jede Sekunde ihrer Aufmerksamkeit.
    Doch als sie aus ihrem Urlaub mit Amanda zurückkehrte, war alles anders. Sie nannte es » meine Auszeit«, als wäre sie zur Kur in einem Heilbad gewesen. Sie war verändert, glücklicher, als wäre ihr eine schwere Last von den Schultern genommen. Faith hatte gekocht vor Neid, als sie ihre Mutter so verändert sah, anscheinend so sorglos. Vor der Reise hatten sie sich im gemeinsamen Elend gesuhlt, und Faith konnte nicht verstehen, wie ihre Mutter das so leicht hatte überwinden können.
    Bis zu Jeremys Geburt waren es noch Wochen, aber Evelyns Leben wurde wieder völlig normal– oder so normal, wie es ging, mit einem schmollenden, verwöhnten, hochschwangeren Teenager-Mädchen zu Hause. Plötzlich ging sie wieder in ihren gewohnten Lebensmittelladen. In ihrer Auszeit hatte sie ein paar Pfund verloren, und sie machte sich daran, den Rest mit einer strikten Diät und Sport auch noch abzunehmen. Sie zwang Faith zu langen Spaziergängen nach dem Mittagessen, und nach einer Weile fing sie auch wieder an, alte Freunde anzurufen, wobei ihr Tonfall andeutete, dass sie das Schlimmste überstanden hatte und sie jetzt, da das Ende abzusehen war, wieder bereit war, sich ins Getümmel zu stürzen. Sie informierte die Stadt, dass sie nach Jeremys Geburt zum Dienst zurückkehren werde. Ganz allgemein fing sie an, sich wieder zu verhalten wie ihr altes Ich. Oder zumindest wie eine neue Version ihres alten Ichs.
    Es hatte Risse in dieser glücklichen Fassade gegeben, doch das erkannte Faith erst jetzt.
    In den ersten Wochen von Jeremys Leben hatte Evelyn jedes Mal geweint, wenn sie ihn in den Armen hielt. Faith konnte sich noch gut daran erinnern, wie ihre Mutter schluchzend im Schaukelstuhl saß und Jeremy so fest an sich drückte, dass Faith Angst hatte, er würde ersticken. Wie bei allem war Faith eifersüchtig auf die Nähe zwischen ihnen. Sie suchte immer Mittel und Wege, ihre Mutter zu bestrafen, indem sie Jeremy von ihr fernhielt, indem sie bis spät am Abend mit ihm wegblieb, ihn mitnahm ins Einkaufszentrum oder ins Kino oder wohin auch sonst ein Baby nicht gehörte– nur um gehässig zu sein. Nur um gemein zu sein.
    Und in der ganzen Zeit hatte Evelyn sich nicht nur nach einem Kind, sondern nach ihrem Kind gesehnt. Nach diesem wütenden, seelenlosen jungen Mann, der ihr jetzt eine Waffe an den Kopf hielt.
    Faith spürte, dass das Handy aufhörte zu vibrieren. Und fast sofort wieder anfing. Zu ihrer Mutter sagte sie: » Es tut mir so leid, dass ich nicht für dich da war.«
    Evelyn schüttelte den Kopf. Unwichtig. Aber es war wichtig.
    » Es tut mir so leid, Mama.«
    Evelyn schaute zu Boden und dann wieder zu Faith. Sie saß auf der Stuhlkante, das gebrochene Bein ausgestreckt vor sich. Der Tote lag einen knappen halben Meter entfernt auf dem Boden. Die Glock steckte noch hinten in seinem Hosenbund. Ebenso gut könnte sie meilenweit entfernt sein. Evelyn konnte kaum aufspringen und sich die Waffe schnappen. Aber sie hätte sich an den Mund greifen und das Klebeband abreißen können, die Enden lösten sich bereits ab. Warum tat sie so, als wäre sie noch immer zum Schweigen verdammt? Warum verhielt sie sich so passiv?
    Faith starrte ihre Mutter an. Was erwartete sie von ihr? Was konnte sie überhaupt tun?
    Ein schweres Poltern schreckte sie beide auf. Sie schauten den Mann an.
    Eines nach dem anderen stieß er die Bücher aus den Regalen. » Wie war’s denn so, hier groß zu werden?«
    Faith schwieg. Sie hatte nicht vor, dieses Gespräch zu führen.
    » Mommy und Daddy sitzen vor dem Kamin.« Er warf die Bibel auf den Boden. Seiten flatterten, als sie durchs Zimmer segelte. » Muss echt klasse gewesen sein, jeden Abend heimkommen zu Milch und Plätzchen.« Die Waffe an der Seite, ging er auf Evelyn zu. Auf halbem Weg machte er kehrt und lief mit schnellen, kurzen Schritten auf und ab. Wieder vergaß er seinen Slang. » Sandra musste jeden Tag arbeiten. Sie hatte nicht die Zeit, heimzukommen und zu kontrollieren, ob ich auch meine Hausaufgaben mache.«
    Die hatte auch Evelyn nicht gehabt. Bill arbeitete von zu Hause aus, also war es ihr Vater gewesen, der fürs Essen sorgte und ihre schulischen Leistungen überwachte.
    » Du hast seine ganze Scheiße in deinem Schrank liegen. Was willste damit?«
    Er meinte Jeremys Sachen. Faith antwortete noch

Weitere Kostenlose Bücher