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Harter Schnitt

Harter Schnitt

Titel: Harter Schnitt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Slaughter
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was passierte? Ihr Atem ging schwer. Man hatte sie offensichtlich gewürgt. Am Hals hatte sie dunkle Flecken. Seitlich am Kopf hatte sie einen Schnitt. Blut sickerte aus einem üblen Riss an der Wange. Faith spürte, wie Liebe in ihr aufstieg und direkt zu ihrer Mutter floss. Es war, als würde Licht aus ihrem Körper strömen. Wie oft hatte Faith sich hilfesuchend an diese Frau gewandt? Wie oft hatte sie an ihrer Schulter geweint?
    So oft, dass Faith den Überblick verloren hatte.
    Evelyn hob die Hand. Ihre Finger zitterten. Sie bedeckte ihr Gesicht. Faith drehte sich um. Ein blendend helles Licht kam durch die vorderen Fenster, durchdrang die dünnen Jalousien, schickte einen Strahl direkt ins Haus.
    Faith duckte sich. Vielleicht erinnerten sich ihre Muskeln an die Trainingseinheiten der letzten Jahre. Vielleicht lag es im Wesen des Menschen, sich so klein wie möglich zu machen, wenn man spürte, dass etwas Schlimmes drohte.
    Im ersten Augenblick passierte rein gar nichts. Sekunden verstrichen. Faith merkte, dass sie zählte:
    » …zwei… drei… vier…«
    Sie schaute zu Caleb hoch.
    Glas zerbarst. Er zuckte, als hätte ihm jemand gegen die Schulter geschlagen. Sein Ausdruck war eine Mischung aus Schock und Schmerz. Faith stieß sich vom Boden ab und sprang auf Caleb zu. Er richtete die Waffe auf ihr Gesicht. Sie schaute direkt in die Mündung, das dunkle Auge des gezogenen Laufs starrte zurück. Die Wut übernahm, sie brannte in ihr und trieb sie an. Sie wollte diesen Mann töten. Sie wollte seine Kehle mit ihren Zähnen aufreißen. Sie wollte ihm das Herz aus der Brust reißen. Sie wollte den Schmerz in seinen Augen sehen, während sie ihm das alles antat, was er ihrer Mutter, ihrer Familie, ihrer aller Leben angetan hatte.
    Aber sie sollte nie die Gelegenheit dazu bekommen.
    Eine Seite von Calebs Kopf explodierte. Kugeln aus der Tec-9 ließen weißen Kalk von der Decke rieseln. Muskelgedächtnis. Zwei Schüsse, kurz hintereinander.
    Langsam sank er zu Boden. Faith hörte nur, wie sein Körper auf den Boden krachte. Zuerst die Hüfte, dann die Schulter, dann der Kopf, der auf das Hartholz schlug. Seine Augen blieben offen. Dunkelblau. So vertraut. So leblos.
    So lange.
    Faith schaute zu ihrer Mutter. Evelyn hatte es geschafft, sich an die Wand zu lehnen. Noch immer hielt sie die Glock in ihrer Hand. Die Mündung senkte sich allmählich. Das Gewicht der Waffe war zu viel für sie. Sie ließ den Arm sinken. Die Waffe fiel scheppernd zu Boden.
    » Mama…« Faith konnte kaum noch stehen. Halb ging, halb kroch sie zu ihrer Mutter. Sie wusste nicht, wo sie sie berühren durfte, welcher Teil ihres Körpers nicht gequetscht oder gebrochen war.
    » Komm zu mir«, flüsterte Evelyn. Sie zog Faith in ihre Arme, strich ihr über den Rücken. Faith konnte nicht anders, sie fing an zu weinen wie ein Kind. » Alles okay, Baby.« Evelyn drückte ihre Lippen aufs Faith’ Kopf. » Es wird alles wieder gut.«

DONNERSTAG

21 . Kapitel
    W ill steckte die Hände in die Hosentaschen, als er den Gang entlang zu Evelyn Mitchells Krankenzimmer ging. Ihm war fast schwindelig vor Erschöpfung. Seine Sicht war so scharf, dass es ihm vorkam, als würde er die Welt auf einem Blu-ray-Monitor betrachten. Er spürte jede Pore seiner Haut. Das war der Grund, warum er nie Kaffee trank. Will stand so unter Strom, dass er das Gefühl hatte, eine Kleinstadt mit Energie versorgen zu können. Die letzten drei Nächte hatte er mit Sara verbracht. Seine Füße berührten kaum den Boden.
    Vor Evelyns Zimmer blieb er kurz stehen und überlegte sich, ob er Blumen hätte mitbringen sollen. Will hatte Bargeld in seiner Brieftasche. Er drehte sich um und kehrte zu den Aufzügen zurück. Er konnte ihr wenigstens einen Ballon im Geschenke-Shop kaufen. Jeder mochte Ballons.
    » Hey.« Faith kam aus dem Zimmer ihrer Mutter. » Wo wollen Sie hin?«
    » Mag Ihre Mom Ballons?«
    » Ich bin mir sicher, sie hat sie gemocht, als sie sieben Jahre alt war.«
    Will lächelte. Als er Faith das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie in den Armen ihrer Mutter geweint. Jetzt sah sie ein bisschen besser aus, aber nicht sehr viel. » Wie geht’s ihr?«
    » Okay. Die letzte Nacht war etwas besser als die davor, aber sie hat immer noch ziemlich heftige Schmerzen.«
    Will konnte es sich nur vorstellen. Man hatte sie mit voller Polizeieskorte im Eiltempo ins Grady gebracht. Über sechzehn Stunden lang hatte man sie operiert und ihr so viel Metall eingesetzt, dass sie durch

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