Harter Schnitt
schnitten durch die Luft und vibrierten in ihren Trommelfellen.
Caleb hatte die Tec-9 jetzt wieder auf Faith gerichtet. Er musste schreien, um verstanden zu werden. » Das war ein Warnschuss«, sagte er. » Der nächste geht dir direkt zwischen die Augen.«
Sie schaute zu Boden. Im Holz war ein Loch. Sie trat einen Schritt zurück und schluckte den Schrei, der in ihrer Kehle aufstieg. Das Knattern wurde leiser, der Hubschrauber flog weg. Faith konnte kaum sprechen. » Bitte tu ihr nicht weh. Mit mir kannst du alles machen, aber bitte…«
» Oh, ich werde dir noch früh genug wehtun, Schwesterchen. Ich werde dir richtig wehtun.« Er streckte die Arme in die Höhe, als wäre er auf einer Bühne. » Genau um das geht’s, yo. Ich werde deinem teuren Jungen zeigen, wie es ist, ohne Mama aufzuwachsen.« Er hielt die Waffe auf Faith gerichtet. » Du warst gut, als du gestern hinter ihm her auf die Straße gerannt bist. Ein wenig näher, und ich hätte ihn tot auf dem Boden gehabt.«
Faith musste sich übergeben.
Er stieß Evelyn mit seinem Turnschuh an. » Frag sie, warum sie mich aufgegeben hat.«
Faith brachte keinen Ton heraus.
» Frag sie, warum sie mich aufgegeben hat«, wiederholte Caleb. Er hob den Fuß, als wollte er ihrer Mutter auf das gebrochene Bein treten.
» Okay!«, schrie Faith. » Warum hast du ihn aufgegeben?«
Caleb sagte: » Warum hast du ihn aufgegeben, Mom ?«
» Warum hast du ihn aufgegeben, Mom?«
Evelyn rührte sich nicht. Ihre Augen waren geschlossen. Als schon Panik in Faith hochstieg, öffnete Evelyn ihren Mund. » Ich hatte keine andere Wahl.«
» Yo, hast du mir das denn nicht das ganze letzte Jahr gesagt, Mom? Dass jeder eine Wahl hat?«
» Es waren andere Zeiten.« Ihr unverletztes Auge öffnete sich. Die Wimpern waren verklebt. Sie starrte Faith an. » Es tut mir so leid, Baby.«
Faith schüttelte den Kopf. » Du musst dich für nichts entschuldigen.«
» Ist das nicht nett? Die Wiedervereinigung von Mutter und Tochter.« Er stieß den Sessel so fest gegen die Wand, dass eines der hinteren Beine abbrach. » Sie hat sich wegen mir geschämt, das ist der Grund.« Er ging zum Bücherregal und wieder zurück. » Sie konnte ein kleines, braunes Baby nicht erklären, das aus ihr rausgespritzt war. Nicht wie du, was? Andere Zeiten.« Wieder ging er auf und ab. » Und du glaubst, dein Daddy war so gut, als du aufgewachsen bist. Sag ihr, was er gesagt hat, Mom. Sag ihr, wozu er dich zwang.«
Evelyn lag auf der Seite, die Augen geschlossen, die Arme vor sich ausgestreckt. Das schwache Auf und Ab ihres Brustkorbs war der einzige Hinweis, dass sie noch lebte.
» Dein guter alter Daddy meinte, entweder ich oder er. Was hältst du davon? Mr. Galveston, Versicherungsmakler des Jahres, sechs Jahre hintereinander, sagte deiner Mama, sie darf ihren kleinen Jungen nicht behalten, weil wenn sie es tut, sieht sie ihre anderen Kinder nie wieder.«
Faith strengte sich an, um ihm nicht zu zeigen, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Sie hatte ihren Vater verehrt, angebetet, wie nur ein verzogenes Papatöchterchen es kann, aber als Erwachsene konnte sie sich gut vorstellen, dass Bill Mitchell ihre Mutter vor dieses Ultimatum gestellt hatte.
Caleb kehrte zu seinem Ausgangspunkt vor dem Bücherregal zurück. Die Waffe hatte er gesenkt, aber sie wusste, er konnte sie jeden Augenblick wieder hochreißen. Er stand mit dem Rücken zur Glastür. Evelyn war links von ihm. Faith stand ihm diagonal gegenüber, ungefähr vier Meter entfernt, und sie wartete darauf, dass die Hölle losbrach.
Faith hoffte, dass Will die Botschaft verstanden hatte. Das Zimmer war eine Uhr. Faith stand bei achtzehnhundert, also sechs Uhr. Evelyn lag bei fünfzehnhundert, drei Uhr. Caleb pendelte zwischen zehn und zwölf hin und her.
Im letzten Monat hatte Faith Will mindestens zwanzig Mal angeboten, sein Handy auf zivile Zeit umzustellen. Er weigerte sich, weil er stur war und bei allem, was seine Behinderung betraf, mit einer komischen Mischung aus Scham und Stolz reagierte. Jetzt im Augenblick beobachtete er sie durchs Badfenster. Er hatte ihr außerdem zu verstehen gegeben, dass sie ihm ein Zeichen geben solle. Sie strich sich mit den Fingern durch die Haare und fügte dabei Daumen und Zeigefinger zum Okay-Zeichen zusammen.
Faith schaute zu ihrer auf dem Boden liegenden Mutter hinunter. Evelyn starrte sie mit dem einen Auge an. Hatte sie gesehen, dass Faith Will das Zeichen gab? War sie noch in der Lage zu verstehen,
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