Harter Schnitt
und das Blutbad erklären. Sie war noch schlimmer als nutzlos, denn alle Antworten auf die Fragen der Beamten waren in ihrem Kopf eingesperrt.
Irgendwann hatte dann einer der Polizisten gemurmelt, dass sie vielleicht unter Alkoholeinfluss stehe. Und ein anderer hatte angeboten, das Testgerät aus seinem Auto zu holen.
Amanda hatte dem sehr schnell Einhalt geboten. Sie zerrte Faith durch den Vorgarten, klopfte an die Tür der Nachbarin– nicht Mrs. Johnson, die einen Toten in ihrem Hinterhof hatte, sondern eine alte Dame mit dem Namen Mrs. Levy– und befahl ihr, Faith einen Platz zu geben, wo sie sich sammeln konnte.
Inzwischen war das Mobile Kommandozentrum vorgefahren. Amanda war sofort hinten hineingesprungen und hatte verlangt, dass dieser Fall unverzüglich dem GBI übergeben werde. Sie wusste, dass sie die Revierstreitigkeiten mit den Bereichskommandanten nicht gewinnen konnte, dass das GBI nicht einfach antanzen und den Fall übernehmen konnte. Der örtliche Leichenbeschauer, der Bezirksstaatsanwalt oder der Polizeichef baten im Allgemeinen den Staat um Hilfe, und das passierte für gewöhnlich nur, wenn sie den Fall selbst nicht lösen konnten oder weder Geld noch Arbeitskraft für die Ermittlungen ausgeben wollten. Der einzige Mensch, der Atlanta diesen Fall entreißen konnte, war der Gouverneur, und jeder Politiker im Staat konnte einem sagen, dass es eine sehr schlechte Idee war, sich mit der Hauptstadt anzulegen. Amandas Schreierei war reine Show. Sie wurde nicht laut, wenn sie wütend war. Ihre Stimme wurde leise, eher ein Grollen, und man musste die Ohren spitzen, um die Beleidigungen zu verstehen, die ihr aus dem Mund spritzten. Sie versuchte nur, für sie Zeit zu schinden. Für Faith Zeit zu schinden.
In den Augen der hohen Tiere bei der Polizei von Atlanta war Faith keine Polizistin mehr. Sie war eine Zeugin. Sie war eine Verdächtige. Sie war eine Person von Interesse, und sie wollten mit ihr über die Männer reden, die sie getötet hatte, und auch darüber, warum ihre Mutter entführt worden war. Die Polizei von Atlanta war kein Haufen Idioten. Sie gehörte zu den besten Dienststellen des Landes. Aber wenn Amanda sie nicht anschreien würde, würde Faith inzwischen schon auf dem Revier sitzen, und sie würden sie verhören wie einen Terroristen in Guantanamo.
Will konnte es ihnen nicht verdenken. Sherwood Forest war kein Viertel, in dem man mitten an einem sonnigen Sonntagnachmittag eine Schießerei erwarten würde. Ansley Park war nur einen Steinwurf entfernt. Wenn man das Netz ein bisschen weiter auswirft, umfasst man etwa achtzig Prozent des Grundsteueraufkommens der Stadt– viele Millionen Dollar teure Anwesen mit Tennisplätzen und Einliegerwohnungen für die Au-pair-Mädchen. Die Reichen gehören nicht zu der Gattung, die etwas Schlimmes passieren lässt, ohne jemanden dafür verantwortlich zu machen. Irgendjemand würde dafür bezahlen müssen. Und wenn Amanda es nicht verhindern konnte, würde diese Person letztendlich Faith sein. Und Will hatte keine Ahnung, was er tun sollte.
Detective Leo Donnelly kam mit schlurfenden Füßen auf Will zu. Aus dem Mund hing ihm eine Zigarette. Rauch stieg ihm ins Auge. Er blinzelte ihn weg. » Also im Bett möchte ich diese Schlampe nicht hören.«
Er meinte Amanda. Sie schrie immer noch, doch ihre Worte waren durch die geschlossene Tür kaum zu verstehen.
Leo fuhr fort: » Weiß auch nicht. Vielleicht würde sich’s ja rentieren. In der Kiste entwickeln sich die Alten oft zu Tigern.«
Will unterdrückte ein Schaudern, nicht weil Amanda Mitte sechzig war, sondern weil Leo offensichtlich ernsthaft über diese Möglichkeit nachdachte.
» Sie weiß, dass sie diese Geschichte nicht gewinnen wird, oder?«
Will lehnte sich an einen der Streifenwagen. Leo war sechs Jahre lang Faith’ Partner gewesen, aber die Schwerarbeit hatte er meist ihr überlassen. Mit achtundvierzig Jahren war Leo bei Weitem noch kein alter Mann, aber die Jahre im Dienst hatten ihn altern lassen. Seine Haut war gelblich von einer überbeanspruchten Leber. Er hatte einen Prostatakrebs überstanden, aber die Behandlung hatte ihren Tribut gefordert. Er war als Kerl ganz okay, aber er war faul, was völlig in Ordnung war, wenn man Gebrauchtwagenhändler war, aber unglaublich gefährlich, wenn man Polizist war.
Leo sagte: » Einen solchen Massenauflauf habe ich nicht mehr gesehen seit dem letzten Fall, den ich mit dir bearbeitet habe.«
Will ließ die Szene auf sich wirken.
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