Harter Schnitt
normalerweise mehr als bereit, der Polizei zu helfen, hatten aber die Macht, jede Befragung zu beenden, falls sie der Meinung waren, sie könnte ihren Patienten gefährden. Geary versuchte es trotzdem. » Welche Art medizinischer Behandlung braucht sie?«
Sara gab nicht nach. » Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn ich sie untersucht habe. Sie könnte unter Schock stehen. Sie könnte verletzt sein. Sie könnte eine Einlieferung ins Krankenhaus nötig haben. Vielleicht sollte ich sie jetzt sofort ins Krankenhaus überstellen und mit den Tests anfangen.« Sara drehte sich um und tat so, als wollte sie die Sanitäter rufen.
» Moment.« Geary fluchte leise und sagte zu Amanda: » Ihre beschissene Verzögerungstaktik werde ich mir merken, Deputy Director.«
Amandas Lächeln triefte vor falscher Freundlichkeit und Unbekümmertheit. » Es ist immer schön, in Erinnerung zu bleiben.«
Geary verkündete: » Ich will, dass man ihr Blut abnimmt und es für einen umfassenden toxikologischen Test in ein unabhängiges Labor gebracht wird. Meinen Sie, Sie schaffen das, Doctor?«
Sara nickte. » Natürlich.«
Will fasste Sara wieder am Arm und führte sie zum Haus der Nachbarin. Kaum waren sie außer Hörweite, sagte er: » Danke.«
Wieder löste sie sich von ihm, als sie die Einfahrt hochgingen. An der Haustür war sie mehrere Schritte vor ihm, doch es fühlte sich eher an wie ein Abgrund. Das war nicht die Sara von vor einer halben Stunde. Vielleicht war es der Tatort, allerdings hatte Will sie schon öfter an Tatorten erlebt. Sara war früher einmal Coroner gewesen. Im Grunde genommen war sie hier in ihrem Element. Will wusste nicht, wie er mit der Veränderung umgehen sollte. Er hatte sein Leben damit zugebracht, die Launen anderer Menschen auszuloten, aber diese Frau zu verstehen, das überstieg einfach seine Möglichkeiten.
Die Tür ging auf, und Mrs. Levy starrte sie durch ihre dicken Brillengläser an. Sie trug ein gelbes Hauskleid, das am Kragen ausgefranst war, und eine weiße Schürze mit watschelnden Gänseküken darauf. Ihre Fersen ragten aus den zum Kleid passenden gelben Pantoffeln. Sie war über achtzig Jahre alt, aber ihr Verstand war noch scharf, und Faith lag ihr offensichtlich am Herzen. » Ist das die Ärztin? Man hat mir gesagt, ich darf nur einen Arzt hereinlassen.«
Sara antwortete: » Ja, Ma’am. Ich bin die Ärztin.«
» Na, sind Sie nicht hübsch? Kommen Sie doch herein. Was ist das für ein verrückter Tag.« Mrs. Levy trat beiseite und öffnete die Tür weit, damit Sara in die Diele treten konnte. » Ich hatte heute Nachmittag schon mehr Besucher als sonst das ganze Jahr.«
Das Wohnzimmer war ein paar Stufen abgesenkt und vermutlich noch genauso eingerichtet wie damals, als Mrs. Levy das Haus gekauft hatte. Auf dem Boden war ein goldgelber Teppichbelag verlegt. Die Couch war eine straff gepolsterte, senffarbene Eckkombination. Das einzige moderne Stück war ein Lehnsessel, der aussah, als hätte er eine elektrische Hebevorrichtung, um das Hinsetzen und das Aufstehen zu erleichtern. Das einzige Licht im Zimmer kam vom flackernden Fernseher. Faith saß, Emma an der Schulter, zusammengesunken auf der Couch. Sie schwieg, als wäre ihr ganzes Geplapper aus ihr herausgeflossen. Und offensichtlich ihre Vitalität gleich mit dazu. Das war eher das, was Will erwartete hatte, als er gehört hatte, dass sie in eine Schießerei verwickelt war. Sie neigte dazu, eher still zu werden, wenn sie aufgeregt war. Aber das hier war auch nicht ganz richtig.
Sie war zu still.
» Faith«, sagte er, » Dr. Linton ist hier.«
Sie starrte den Fernseher an und erwiderte nichts. In gewisser Hinsicht sah Faith noch schlimmer aus als zuvor. Ihre Lippen waren so weiß wie ihre Haut. Schweiß gab ihrem Gesicht einen fast transparenten Schein. Sie atmete flach. Emma krähte, aber Faith schien es nicht zu bemerken.
Sara schaltete das Deckenlicht an, bevor sie sich vor sie kniete. » Faith? Können Sie mich anschauen?«
Faith’ Blick war noch immer auf den Fernseher gerichtet. Will nutzte den Augenblick, um die Jeans über seine Shorts zu ziehen. In der Gesäßtasche spürte er einen Klumpen und zog Uhr und Brieftasche heraus.
» Faith?« Saras Stimme wurde lauter, fester. » Schauen Sie mich an.«
Langsam blickte Faith Sara an.
» Geben Sie mir Emma.«
Faith’ Stimme klang verwaschen. » S’schläft.«
Sara umfasste Emmas Taille mit beiden Händen. Behutsam hob sie das Baby hoch. » Schauen Sie sie nur an. Wie
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