Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hartland

Hartland

Titel: Hartland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Buescher
Vom Netzwerk:
Grande eingewandert. Auf Schritt und Tritt trat er mir in den Weg. Vor einem Laden, vollgestopft mit lockenden, winkenden Skeletten, blieb ich stehen, auch weil er Schatten bot. Im Schaufenster hing das Hochgebet an den Tod:
     
    Du, der du auf den Augenblick wartest, deine Schwingen über mich zu breiten, bewahre mich, solange meine Stunde nicht geschlagen hat, vor dem Bösen und vor allen mir verborgenen Gefahren. Beschütze mit deinem mächtigen Mantel all jenes, das erst entsteht, behüte mich vor dem bösen Willen, damit ich die Gunst erlange, an deinem Altar zu beten. Führer durch das Leben, barmherziges, leitendes Licht, lebe mir fort.
     
    Der Ladenbesitzer kam heraus und stellte mich zur Rede, als ich es abschrieb, aber seine Tochter besänftigte ihn. «Laß ihn, Vater, er schreibt nur was ab. Nur ein Schreiber, Vater.» – «Ein Schreiber.» Sein Gesicht verfinsterte sich. «Das sind die, die nehmen und nicht bezahlen.» Er schloß den Laden ab. Dann stiegen die beiden in einen teuren Geländewagen und hupten sich durch die Gasse davon.
    Adiós!
    Ich mußte den Hefesuppengeschmack loswerden und ging etwas trinken. Der Barmann musterte mich. «Du bist nicht von hier. Hast du schon ein Hotel?» Ich nickte. «Brauchst du ein Auto? Nein? Einen, der dir die Stadt zeigt oder – eine? Auch nicht? Was machst du hier?» Er ließ nicht locker. «Gehst du rüber nach Matamoros?» Ich nickte wieder. «Okay, ein Rat, der ist umsonst. Wenn du rüberwillst, dann geh nicht mehr heute. Warte bis morgen. Geh früh. Sei mittags um zwölf wieder hier. Vormittags schlafen die Mörder. Wenn sie aufstehen, mußt du weg sein. Ich bin aus Matamoros, ich mach’s selbst so. Es ist traurig. Ich würde gern mal wieder da sein, bei der Familie, verstehst du, nicht nur ein paar Stunden. Brauchst du nicht doch ein Hotel?»
    Es war zwei Uhr nachmittags, als ich zur Grenze ging. Ich erwartete eine schwer gesicherte Anlage, schärfste Kontrollen, Probleme aller Art. Ich dachte an die Nordgrenze, wie man mich dort behandelt hatte, und erwartete nichts Gutes. Es kam verblüffend anders. Ein amerikanischer Grenzer stand herum und machte keine Anstalten, etwas von mir zu wollen. Ich fragte ihn, ob ich über die Brücke nach Mexiko gehen könne. Er zeigte auf den Durchlaß, ein Drehkreuz wie im Hallenbad, und sagte: «Sixty-five cent.» Ich verstand nicht. Er sagte es noch einmal, langsam wie zu einem Deppen.Ich angelte die Münzen aus der Hosentasche, hatte sie passend, warf sie in den Schlitz, drückte mich durch und ging über den Rio Grande nach Mexiko, für fünfundsechzig Cent.
    Vom Fluß sah ich nicht viel, er war unscheinbarer, als ich ihn mir vorgestellt hatte, außerdem war die Grenzbrücke, wie manche mittelalterlichen Holzbrücken, übertunnelt und vergittert, nur hier und da erhaschte ich einen Blick. Am anderen Ufer wehte eine riesige mexikanische Fahne. Noch durch den Kordon der Taxifahrer und fliegenden Händler, eine kurze, heftige Attacke, und ich verschwand in den Straßen von Matamoros.
    Erst kam ich ins stille Viertel der Kliniken und Praxen aller Art, hier wurden amerikanische Zähne, Gelenke, Herzen, Bäuche, Gesichter und was es sonst zu versorgen oder zu verschönern gab, preisgünstig hergerichtet. Ich lief ziellos weiter, erreichte das Zentrum, aß «huevos rancheros» im schattigen Patio des Hotel Colonial, lief wieder weiter, offenbar im Kreis, irgendwann stand ich erneut vor der Mexikofahne. Ich ließ mich auf einem Mäuerchen nieder, unter einem Baum, und tat, was Moe und seine Freunde taten, drüben im Paradies – dasitzen und zusehen, wie der Tag vergeht.
    Kleine Menschen – nach und nach kam mir zu Bewußtsein, was ich doch die ganze Zeit sah. Ich sah wieder kleingewachsene Leute, ich hatte sie nicht mehr gesehen, seitdem ich in Amerika war, in Amerika gab es nur große. Kleine Leute, verwachsene auch, versehrte, entstellte, hinkende, sie alle waren auf einmal wieder da. Viele von ihnen sammelten sich an diesem Platz naheder Grenze, um Gringos, die herüberkamen, etwas anzudrehen oder etwas von ihnen zu erbetteln.
    Ein Mann schleppte eine Kiste Heilige und Kruzifixe herbei. Eine junge Frau wischte Autofenster, aufreizend nachlässig, mit einem dreckigen Lappen. Steckte man ihr Geld zu für die Reinigung oder wegen ihrer knappen Bluse? Der Alte im Rollstuhl neben mir rauchte und sog einen Zigarettenstummel ganz zu Ende, dann zog er sich die Socke vom Fuß, über den dicke lila Striemen liefen, aufgemalt

Weitere Kostenlose Bücher