Hartland
sahen sie aus, aber das konnte täuschen. Die einen bereiteten sich auf ihre Auftritte vor wie Schauspieler, andere saßen müßig auf dem Mäuerchen, schauten zu, rauchend, auf irgendetwas wartend, wie ich. Worauf ich aber wartete, wußte ich nicht; war ich denn nicht am Ziel? Ich hatte Amerika gesehen, das Reich dieser Zeit, wie ein Gesalbter war der Amerikadepp hindurchgegangen, wie ein Unberührbarer, niemand hatte die Hand gegen ihn erhoben, man las ihn von der Straße auf, aus Regen und Hitze, gab ihm zu trinken, wenn er durstig war, und teilte bereitwillig die Erinnerungen – das Amerikalied in immer neuen Strophen. Und nun saß ich auf dem mexikanischen Mäuerchen der Müßigen und Wartenden, einer von ihnen, einer ohne Gepäck. Ein Mann trat auf mich zu, einen verhängten Kasten in der Hand. Blitzschnell griff er hinein, holte etwas heraus, drückte es mir in die Hand – es lebte, ein kleiner Vogel, ein Kolibri. Der Vogelhändler hielt die Hand auf, sein dunkles Indiogesicht zeigte keine Regung. Ich gab ihm einen Schein. Das Herz in meiner Faust raste, die Frage in meinem Kopf pochte: Wohin? Wozu?
Ein Priester schlenderte über den Platz und setzte sich neben mich. Er gehörte weder zu den einen noch zu den anderen hier. Er hatte nichts vor, und er schaute nichts an. Er saß nur da in seiner zerschlissenen Soutane, die dunklen Augen auf nichts gerichtet. Nach einer Weile nahm er einen verstohlenen Schluck aus einer kleinen Flasche. Als er sah, daß ich ihn beobachtet hatte, bot er mir einen Schluck Mezcal an und gönnte sich selbst auch noch einen. Ich fragte ihn, ob hier wirklich soviel geschossen werde.
«Ja», sagte er.
«Nachts?»
«Jederzeit.»
«Man sollte nachts nicht rausgehen?»
«Man sollte nie rausgehen.»
«Sie gehen aber raus.»
«Die kennen mich. Manche von denen kommen zu mir, um zu beichten. Man darf nicht zuviel darüber nachdenken, sonst wird man verrückt.» Er bot mir noch einen Schluck an. «Beten. Oder wissen Sie etwas Besseres? Beten und ab und zu …» Er setzte die Flasche an, sie war leer, er warf sie fort. «Kommen Sie», sagte er, «wir gehen.»
«Wo gehen wir hin?»
«Beichten. Sie sehen aus, als könnten Sie’s brauchen.»
Ich danke all denen, die mir unterwegs halfen, auch denen, die nicht in diesem Buch erscheinen. Ich danke Professor Markus Kreis für den entscheidenden Hinweis zur Reise von Black Elk. Und ich danke der Villa Massimo in Rom für die Zeit der Stille, die ich am Ende brauchte.
Informationen zum Buch
Zu Fuß in das Herz Amerikas, drei Monate lang, 3500 Kilometer von Nord nach Süd: Wolfgang Büscher hat das Abenteuer gewagt. Er läßt sich durch die schneebedeckte Prärie Norddakotas treiben, entdeckt den verlassenen Ort Hartland, der einst Heartland hieß, und freundet sich in den Great Plains mit einem rätselhaften indianischen Cowboy an. Dann folgt er der Route 77 vom Missouri bis zum Rio Grande. Bob Dylan nannte diese historische Straße einmal das eigentliche Herz Amerikas, ihr entlang lasse sich der Geist des Landes einfangen. In Kansas muß Büscher mit gespreizten Armen und Beinen am Wagen des Sheriffs stehen, auf offener Landstraße, er schläft in gespenstischen Motels und viktorianischen Herrenhäusern und flieht aus einem Nachtasyl. Dann Texas. Ranches, groß wie kleine Staaten, die Hitze des Südens. Bei Waco, wo einst die bewaffnete Davidianer-Sekte wochenlang vom FBI belagert wurde, trifft er den heutigen Sektenchef – der Wahn lebt. Büscher läßt sich weitertreiben, immer weiter nach Süden, durch die Desierto de los Muertos, bis er schließlich über den Rio Bravo nach Mexiko verschwindet …
Ein einzigartiges Reiseabenteuer – geschrieben von einem Autor, dessen Bücher, so der «Spiegel», «zum Besten gehören, was in den letzten Jahren in deutscher Sprache erschienen ist».
Informationen zum Autor
Wolfgang Büscher, geboren 1951, ist Autor der «Zeit». 1998 erschien sein Buch «Drei Stunden Null», 2003 «Berlin – Moskau», 2006 «Deutschland, eine Reise» und 2008 «Asiatische Absencen». Er erhielt zahlreiche Preise, unter anderem den Kurt-Tucholsky-Preis für literarische Publizistik, den Wilhelm-Müller-Literaturpreis und zuletzt, 2006, den Ludwig-Börne-Preis.
Impressum
Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2011
Copyright © 2011 by Rowohlt · Berlin Verlag GmbH, Berlin
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