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Hartmut und ich: Roman

Hartmut und ich: Roman

Titel: Hartmut und ich: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Uschmann
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trockengelegten Sümpfen, in die ein Gülletransport hineingefahren und aufgebrochen ist, nicht kräftiger entfalten könnte.
    Ich räume den Radiowecker, die Uhr, die Zettel, das Etui und die Bücher vom Nachttisch und stelle ihm das Tablett hin. In Zeitlupe wuchtet er sich auf die Seite und ächzt. Er schiebt sich die Joghurt-Obst-Pampe mit missmutigem Blick in den Mund, den er nur gerade so weit öffnet, wie es nötig ist. Ein Stück Apfel mit Joghurt-Schmiere drauf fällt erst auf die Bettkante und dann in den Teppich. Die Milben fressen es sofort auf. Hartmut stößt nach ein paar Bissen einen Laut aus, der mit einem tiefen Seufzer beginnt und dann beim Ausatmen in ein langes »Hööoooooaoaooo« ausklingt. Ich frage mich, ob ihm klar ist, dass er nur eine Grippe hat. Als er die Pille nehmen muss, geht es wieder los. »Mach sie kleiner«, sagt er, obwohl ich das weiße, einen Zentimeter lange Breitband-Antibiotikum schon in zwei Hälften gespalten habe. »Hartmut, es ist nur ein winziger Krümel. Ein Stück Currywurst ist achtmal so groß!«
    »Mach sie kleiner!«, sagt er wieder, und ich nehme das Küchenmesser, das zu diesem Zweck schon lange vor Hartmuts Bett liegt, und zerhacke die Filmtablette in Viertel. Ein paar Ecken davon springen unter das Bett und zu den flüchtenden Milben. Wenn man all diesen Verschnitt zusammenzählt, hat Hartmut in den letzten Tagen doch keine drei ganzen Pillen täglich genommen. Er nimmt einen Viertelkrümel und das Glas, legt ihn sich auf die Zunge, will schnell das Wasser hinterherkippen, aber beginnt schon mit dem Würgen, als das Glas nicht mal seine Lippen erreicht hat. Bevor er sich auf mich und den Milbenteppich erbrechen kann, spuckt er das Tablettenviertel in hohem Bogen aus. Es landet kurz vor seinem Schreibtisch, prallt am Stuhl ab und vergräbt sich in den Zotteln des Teppichs, der schon ganze Supermarktketten-Inhalte an Nahrung, Getränken und Medizin in sich aufgenommen haben muss. Dann spült Hartmut seinen Mund aus und macht kehlige Geräusche. Im Bad nebenan schaltet die Waschmaschine mit lautem Getöse in den Schleudergang. »Es kann doch nicht so schwer sein, eine Tablette zu schlucken!«, sage ich, der ich dieses Schauspiel nun schon seit vier Tagen erleben muss. Ich habe mir freigenommen, weil Hartmut am ersten Tag Kirsten aus der Wohnung über uns herunterbrüllte. Ich renne in die Küche, komme mit einer neuen Pille und der Wasserflasche zurück, baue mich vor Hartmut auf, lege die Tablette auf meine Zunge, nehme die Pulle Wasser und schlucke die Tablette, ohne zu zögern. Dann mache ich »Ahhh!« wie ein Sportler nach der Erfrischung und sehe ihn an. Hartmut hebt leicht die Augenbrauen und sagt: »Dir ist bewusst, dass es nicht gut ist, als gesunder Mensch Antibiotika zu schlucken? Ich könnte es als Verhöhnung meiner Lage betrachten, dass du meine lebenswichtige Medizin zum Vergnügen verzehrst.« – »Ja, natürlich, alles nur zum Vergnügen!«, brülle ich jetzt und ahne, dass ich wieder etwas Blödes sagen werde. »Ich knalle mir auch manchmal eine Chemo rein, weil das so schön zwiebelt!«, sage ich, und schon ist es geschehen. Hartmut braucht gar nichts zu sagen, ich schäme mich auch so. Ich sage: »Ich hänge jetzt erst mal deine Wäsche auf«, gehe ins Bad, ziehe mitten im Schleudergang den Stecker aus der Dose und rupfe die Wäsche aus der Maschine. Als ich ein paar Minuten die wohlriechenden Schlafanzüge aufgehängt habe, sagt Hartmut, ohne zu rufen: »Es ist doch wegen meines Traumas. Ich kann diesen Geschmack einfach nicht ertragen.« Hartmut hatte mir bereits von diesem »Trauma« erzählt. Als Kind hatte er einmal einen Milchzahn mit der Zunge losgefummelt und sich dann an ihm verschluckt. Nur die beherzte Bauchwürgetechnik seiner Mutter konnte ihn vor dem Erstickungstod bewahren. Kurze Zeit später musste er diese weißen Antibiotika-Tabletten nehmen, die ihn beständig an seinen verschluckten Zahn erinnerten. Als er sie dann auf der Zunge hatte und der Geschmack der Pillen so ungefähr zwischen galligem Aufstoßen, Eisen, Rost und Blutzahn pendelte, kotzte er die Küche der Mutter so allumfassend gründlich voll, dass diese noch zwei Tage später Bröckchen im Besteck fand. Und da die Antibiotika-Firmen ihren Geschmack nie ändern …
    »Ich hab’s geschafft!«, ruft Hartmut jetzt aus dem Zimmer, und ich gehe hinein, sehe eine Lache Wasser auf dem Nachttisch, ein paar Krümel der klein geschnittenen Pillen und einen schwer atmenden

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