Hartmut und ich: Roman
aus der ich ein Zischen zu hören glaube, nimmt die Dose vorsichtig in die Hand, achtet darauf, dass die mumifizierte Ravioli am Rand kleben bleibt und stellt sie behutsam auf den Küchentisch. »Das, mein Freund, ist unser Weg zurück ins Leben mit Heizung und Warmwasser«, sagt er. »Heizung und Warmwasser.«
Einen Tag später steht Hartmut auf der zerfallenen Treppe vor unserem Haus und lässt sich grinsend mit der Dose in der Hand von einem Bild-Fotografen ablichten, der tatsächlich mit amerikanischem Akzent »amazing« und »wonderful« sagt, wie man es sich in seinen schlimmsten Vorurteilen nicht vorstellen will. Hartmut hat die Bild-Zeitung angerufen und gesagt, dass er eine Schimmeldose als Kunstobjekt auf eBay verkaufen will. Kaum fünf Minuten später stieg der Fotograf vor unserem Fenster aus seinem Mazda-Sportwagen. Die Jugoslawen stehen drüben in der Tür der Pommesbude und sehen zu uns herüber, als wenn sie sagen wollten: »Ja, wer Fotosessions macht, ist sich wohl zu fein, um noch länger bei uns Pommes zu kaufen.« Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Zwei Tage später startet der Wettbewerb.
Die Konkurrenz besteht aus einem Alkoholiker in Trainingshose, den die Bild-Redaktion den »Profi-Zocker« nennt, und der »schicken Pferde-Lady« aus Stiepel, die das Geld gar nicht nötig hat und auf die Rennbahn geht. Hartmut wird als »verrückter Protestkünstler« angepriesen, der »Müll als Kunst verhökert«. Über den Begriff »verhökern« regt sich Hartmut den ganzen Tag auf. Hartmut stellt die Dose als Top-Angebot auf eBay und schreibt einen irrsinnig langen Text dazu: über Jobsuche und Armut, die Praktikantenwelt und die Hatz nach dem letzten Cent, auf der man sogar das Essen vergisst und stehen lässt, auf dass es zu leben beginnt und blaugrüne Landschaften bildet. Er verkauft unsere Dose als Metapher der Reformgesellschaft; als absolutes Readymade, das ohne Absicht entstand und gerade deshalb zum Sinnbild des großen Zwanges wurde, der uns frieren und nur noch Dosenfraß essen lässt. Er inszeniert die Auktion als Event, schickt Pressemitteilungen herum und ruft sämtliche kulturellen Redaktionen an, bis sie versprechen, über die Versteigerung zu berichten, wenn es ihm gelingen sollte, mit einer verschimmelten Raviolidose alle unsere finanziellen Sorgen aus der Welt zu schaffen.
Allein, es hilft nichts.
Als wir am nächsten Tag die Zeitung aufschlagen und den Zwischenstand sehen, gefriert uns der Atem mehr, als er es in der Wohnung ohnehin schon tut. Wir sehen den Trainingshosenmann auf einem Hocker in der Merkur-Spielothek im Ruhrpark sitzen, gestelzt zur Kamera gedreht, Bierschaumreste in seinem Schnäuzer. »Der Schamane der Spielautomaten geht in Führung«, steht da und weiter heißt es: »Am ersten Spieltag des Money-Maker-Wettbewerbs beweist Wolfgang M. sein Talent am Spielautomat. Der leidenschaftliche Zocker entlockt den blinkenden Automaten Münze um Münze. Die ›normalen‹ Besucher der Spielothek schauen ihm ungläubig zu.«
»Leidenschaftlicher Zocker«, schimpft Hartmut und knüllt die Zeitung zusammen. »Ein Süchtiger ist das, die Jogginghose stinkt doch bis hierher!«
Am zweiten Tag geht die Pferde-Lady in Führung, die Zeitung lichtet sie neben einem winzigen Jockey ab, der ihr sicher den Gewinn einreitet. Wir hängen derweil Minute um Minute am Bildschirm, obwohl wir uns den Strom nicht leisten können, aktualisieren immer wieder die Auktionsseite und sehen Klick für Klick dasselbe: null Gebote. Am dritten Tag führt wieder die Jogginghose, am vierten siegt der Jockey erneut. Die Bilanzkurven der Konkurrenz steigen unablässig, wir trauen uns kaum vor die Tür ob der Blamage; wer weiß, wer von den Nachbarn alles die Bild-Zeitung liest. Als sich die Woche dem Ende zuneigt, wissen wir nicht mehr weiter. Wenn wir das Ding nicht gewinnen, können wir den Ruin anmelden. Wir starren auf die Scheiben unserer Wohnung, die mehr und mehr vereisen. Von innen. Dann sehen wir uns an und wissen ohne Worte, was zu tun ist.
Ich schaffe es gerade pünktlich zur Rennbahn. Ich muss den Jockey aufhalten. Wenn er heute verliert, verliert die Pferde-Lady alles. Sie geht aufs Ganze, so stand’s in der Bild. Der Jockey ist gerade auf sein Pferd gestiegen, als ich ihm meinen gefälschten Presseausweis und das Diktiergerät unter die Nase halte. Eigentlich halte ich sie eher auf Höhe seiner Füße. Ich zerre an den Steigbügeln: »Einen exklusiven O-Ton für den WDR
Weitere Kostenlose Bücher