Hasenherz
Bereitschaft bei ihr, sich von ihm hassen zu lassen, bis eben, bis sie das eben gesagt hat. Er will das nicht wissen, er fühlt, wie es ihm tiefe Sonden ins Herz stößt, er will es nicht wissen. Er will es nicht hören. Er will kein einziges Wort mehr von seiner Mutter hören. Er möchte raus hier und sich ein Fünkchen von seiner Liebe für sie bewahren.
An der Tür fragt er den Vater: «Wo ist Mim?»
«Wir kriegen nicht mehr viel zu sehn von Mim», sagt der alte Mann. Er schlägt seine verwischten Augen nieder und faßt sich an die Hem dentasche, die zwei Kugelschreiber enthält und ein kleines verschmutztes Bündel Karten und Papiere. In den letzten Jahren ist sein Vater dazu übergegangen, alles mögliche zu kleinen Stapeln auf zuschichten – Kar ten und Listen und Quittungen und winzige Kalender – und dann ein Gummiband drumzuschnüren und diese Bündel mit altmännerhafter Geschäftigkeit in verschiedenen Taschen zu verstauen. Rabbit verläßt sein Elternhaus in großer Niedergeschlagenheit; es ist, als sei sein Herz von der Fahrbahn geschlittert.
Die Tage vergehen gut, solange Nelson wach ist. Wenn er aber in Schlaf fällt, wenn sein Gesicht einschläft und sein Atem aus- und eingeht zwischen willenlosen Lippen, von denen Speicheltropfen auf das Laken fallen, wenn sein Haar sich in zierlich-leichten Büscheln auf dem Kissen ausfächert und die makellose Haut seiner erschlafften Pausbacken, aus denen alles Leben gesogen ist, versiegelt ist mit einem tiefen Rot, dann breitet sich in Harry ein totes Gelände aus, und er hat Angst. Die Ruhe des Kindes ist so schwer, daß Rabbit fürchtet, sie könne die Membran des Lebens durchbrechen und in die Endlosigkeit stürzen. Manchmal geht er zum Gitterbettchen hin und hebt das Kind heraus, nur, um seine Wärme und den hilflosen Protest seiner schlafbe fangenen, kraftlosen Gliedmaßen zu spüren.
Er beschäftigt sich fieberhaft in der Wohnung, dreht alle Lampen an, stellt den Fernsehapparat ein, trinkt Ingwerbier und blättert in alten -Nummern, greift nach allem, womit sich die Leere stopfen läßt. Bevor er schlafen geht, stellt er Nelson vor die Toilette, läßt den Wasserhahn laufen und streichelt den strammen, nackten Hintern des Jungen so lange, bis ein leiser Nieselfaden sich löst im erschütterten Schlafzustand des Kindes und ruckweise ins Becken plätschert. Dann wickelt er eine Windel um Nelsons Körpermitte und legt ihn ins Bettchen zurück und rüstet sich zum Sprung über den tiefen Abgrund zwischen jetzt und dem Augenblick, da der Junge wiederauferstanden ist und mit durchnäßter Windel sich neben dem großen Bett aufbaut, im pelzigen Frühsonnenlicht, und ihm prüfend ins Gesicht patscht. Manchmal krabbelt er zu ihm ins Bett, und das klamme kalte Tuch erschreckt Rabbits Haut, und es ist, als lande er wieder an einem verläßlichen Ufer. Die Zeit bis dahin ist von keinem Nutzen für ihn. Er muß sie aber überstehen, und diese Anstrengung raubt ihm den Schlaf. Er liegt diagonal im Bett, damit die Füße nicht heraushängen, und kämpft gegen das kippende Gefühl in seinem Innern an. Wie ein Boot ohne Steuermann schrammt er immer wieder an denselben Klippen vorbei: am häßlichen Benehmen seiner Mutter, am Blick des Vaters, als habe er, Rabbit, Fahnenflucht begangen, an Ruths Wortlosigkeit in den letzten Minuten, die er mit ihr zusammen war, am bedrückenden Schweigen seiner Mutter; was hat sie nur? Er rollt sich auf den Bauch und starrt in ein grundloses Meer hinab, immer tiefer, läßt sein blindes Senkblei immer tiefer fallen, bis dahin, wo gezackte Riffe ihr Wesen treiben. Die gute alte Ruth im Schwimmbad. Harrison, diese klägliche Niete, dieser kleine miese Schuft, der im piekfeinen College-Anzug schwitzt. Margarets dreckige, weichliche, kleine Hand, die über den Tisch flippt, Tothero ins Gesicht, und Tothero, der ausgestreckt daliegt mit schlaffer Zunge und schielenden, gelierten Augen. Nein. Er will an all dies nicht denken. Er rollt sich auf den Rücken im heißen, trockenen Bett, und das kippende Gefühl kommt wieder drohend über ihn. Er muß an etwas Angenehmes denken. An das Spiel vielleicht und den Apfelmost in der kleinen Schule am südlichsten Ende des Distrikts, in Oriole, aber es liegt zu weit zurück, er kann sich nur noch an den Apfelmost erinnern und an die Menschen, die auf der Tribüne saßen. Ruth im Schwimmbad: sie liegt ganz schwerelos im Wasser, ist umglit ten von Wasser, schwimmt rückwärts durchs Wasser, mit
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