Hassbluete
alle Menschen glücklich zu machen.
Mit dem Buch setzte ich mich wieder auf den Stuhl, ich wollte nur kurz den Anfang und das Ende lesen, mehr nicht. Ich schlug es auf und blätterte bis zur Seite mit dem ersten Kapitel. Da stand handschriftlich eingetragen ein Datum – 1. Mai 2011 und darunter: »Michelle hat mich gerettet. Sie mag mich doch.« Daneben ein .
Mir stiegen die Tränen in die Augen und ich blätterte schnell weiter, ob es noch weitere Notizen gab, konnte aber nichts weiter finden. Auf der letzten Seite befand sich auf der Innenseite des Umschlags ein Porträt des Autors – ein Norweger, der dafür den skandinavischen Literaturpreis bekommen hatte.
Ich klappte das Buch zu, sodass meine Tränen jetzt auf den Schutzumschlag tropften. Schnell wischte ich sie mit meinem T-Shirt weg. Ich konnte Robins Panik an der Berkel jetzt spüren und verstehen.
Ich überlegte, ob ich das Buch einstecken sollte. Vielleicht würde ich irgendwann noch mal einen Beweis brauchen, dass es Mike und nicht ich gewesen war, der an der Berkel die Fäden in der Hand gehabt hatte. Dann fiel mir ein, dass ich gerade angefangen hatte, Mike ein wenig zu vertrauen. Ich stieg noch einmal mit wackeligen Beinen auf den Stuhl und legte das Buch so zurück, wie Robin es uns hinterlassen hatte.
Dann ging ich zurück in den Flur. An der Garderobe hing Lisas beige Sommerjacke, die sie nie zuknöpfte, sondern stattdessen mit dem Gürtel vorne zusammenband. Darunter lugte Robins orangefarbene Jacke hervor. Ich nahm sie vom Haken und legte sie auf sein Bett, um ihn mir noch besser vorstellen zu können. Ich schloss den Reißverschluss und plusterte die Kapuze auf: So musste ich mir nur noch sein Gesicht dazudenken. Eigentlich hatte er ein schönes Gesicht gehabt, die weiße helle Haut, kaum Pickel, die feinen, schmalen Lippen, die graublauen Augen.
Was hätte ich oder wir alle Robin geben müssen, damit er geblieben wäre?
»Sorry«, sagte ich. Und schon wieder liefen meine Tränen.
Hatte Mike recht, das mehr zwischen Robin und mir gewesen war, als ich mir eingestehen wollte? Mehr als nur platonische Geschwistergefühle? Er hatte mich gerührt, ohne dass ich mit diesem Gefühl etwas anfangen konnte. Vielleicht war das das Problem gewesen? Ich hatte seine Signale nicht verstanden!
Alle haben sich merkwürdig verhalten, nachdem Robin tot war, auch Michelle. (. . .)
Keiner wusste doch etwas von Robins Amokplänen. Jeder hat sich irgendwie schuldig gefühlt und sich gefragt, was habe ich falsch gemacht? Bin ich schuld an Robins Tod? Habe ich versagt, seine Hilferufe nicht gehört? Hätte ich anders reagiert, wenn ich gewusst hätte, dass es meine letzte Chance bei Robin war? Deshalb diese ständige Lügerei. (. . .)
9
Ich hängte Robins Apfelsinen-Jacke an die Garderobe zurück.
Da hörte ich den Schlüssel in der Tür.
Sie kamen zurück? Jetzt schon?
Hatte ich die Zeit vergessen?
Hektisch sah ich mich nach einem Versteck um und stieß die Badezimmertür auf. Die einzige Möglichkeit im Bad war die Wanne. Ich stieg über den Rand und stellte mich hinter den meerblauen Duschvorhang. Der Schaum war inzwischen fast vollständig zusammengefallen. Trotzdem knisterte es leise, als er mit der Sohle meiner Stiefel in Kontakt kam.
Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, hörte man Wolfgangs verärgerte Stimme: »Jetzt erklär mir das bitte! Wieso hast du der Polizei nicht Robins Abschiedsbrief gezeigt?«
Was für ein Abschiedsbrief?
Es hörte sich an, als hätten sie schon den ganzen Heimweg gestritten.
»Ich konnte einfach nicht«, sagte Lisa.
»Warum nicht? Das ist Unterschlagung von Beweismitteln und Behinderung der Ermittlungen. Und dafür können sie dich anklagen.«
»Wieso Beweismittel? Wofür? Dass Robin tot ist!? – War es jetzt doch kein Unfall? Beweismittel sammelt man doch nur, wenn ein Tatverdacht vorliegt, oder nicht?«
Ich hörte das Klimpern der Schlüssel, die irgendwo abgelegt wurden.
»Ich verstehe deinen Schmerz und dass du diese letzte Nachricht von Robin nicht gerne aus der Hand gibst. Aber sie ist doch auch keine Antwort auf die Frage, warum er sich umgebracht hat? Was haben wir falsch gemacht?«
Robin hatte sich also tatsächlich selbst vom Balkon gestürzt?
»Ich habe nichts falsch gemacht!«, sagte Lisa, als müsste sie sich selbst davon überzeugen.
»Das hab ich ja auch nicht gemeint.« Seine Stimme wurde leiser, er folgte ihr offenbar in die Küche, aber ich verstand trotzdem, was er noch
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