Hassbluete
letzte Treppe schaff ich auch noch allein.« Sie klang eher stolz als vorwurfsvoll.
»Na, dann ein andermal«, sagte ich und flitzte weiter.
Als ich endlich unten ankam, horchte ich kurz an der Kellertür, bevor ich aufschloss. Es war niemand da. Dann knipste ich das Licht an und schloss von innen zu, zog den Schlüssel ab. Zögernd ließ ich mich in dem Sessel nieder und holte den Brief aus meiner Rocktasche. Ich faltete ihn nicht gleich auseinander. Was würde mich beim Lesen erwarten? So wie sich Robins Mutter angehört hatte, musste ich mit dem Schlimmsten rechnen. Ob etwas über die Berkel drinstehen würde? Lisa hatte etwas von Mördermachern gesagt. Das hörte sich ziemlich heftig an. Wollte ich diesen Brief überhaupt lesen?
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis ich den Briefbogen endlich auseinanderfaltete und mich traute, einen Blick darauf zu werfen. Ich las.
Hallo,
wenn Ihr diesen Brief lest, bin ich nicht mehr einer von Euch – von Euch Versagern, Schwächlingen, Wegguckern. Ihr guckt lieber weg und mischt Euch nicht ein, habt lieber Eure Ruhe, als einzugreifen, wenn jemand in Gefahr ist. Aber immer diese Stille, dieses Schweigen, das halte ich nicht mehr aus. Am liebsten würde ich Euch alle die Knarre an den Kopf halten, damit endlich mal jemand die Augen aufmacht. Ich hätte es getan, beinahe hätte ich es getan. Dann wär hier Amok gewesen. Und meine Zeit ist noch nicht vorbei, noch ist alles möglich!
Ihr habt es gesehen, wenn Ihr später diese Zeilen lest. Ich habe oft mit dem Gedanken gespielt und hatte einen Plan. Es ist nicht so schwer, sich eine Waffe zu besorgen, wie man vielleicht meint. Ich hätte eine gehabt und es wäre gerecht gewesen, Euch für eure Feigheit zu bestrafen und für Eure Verantwortungslosigkeit. Und ich hätte Euch erlöst, von Eurer Mitschuld. Denn Ihr ahnt nicht, wie schwer diese Schuld schon jetzt auf Euren Schultern lastet.
Aber was wäre dann passiert? Alle hätten nur mir die Schuld gegeben. Ich wäre der Böse gewesen und Ihr wärt die Opfer. Deshalb klage ich Euch an und alle, die das Problem nicht erkennen wollen, auch wenn man es ihnen zeigt.
Und ich klage die an, die aus mir gemacht haben, was ich bin, und die mich so in die Enge getrieben haben, dass ich jetzt keinen anderen Ausweg mehr sehe. Sie gehören genauso bestraft, wenn nicht sogar mehr, weil sie sich als Monster an Schwächeren vergreifen. Sie vergiften uns und machen Mörder aus uns. Sie sind Seelenvergifter und Mördermacher und sie sind immer und mitten unter uns, weil niemand sie erkennt. Und wenn man zum Mörder gemacht wurde, bleibt einem am Ende nichts anderes übrig, als sich selbst zu richten. Ich will nämlich ein Engel werden und werde dann niemanden beschützen, der es nicht verdient hat. Ich bin ein gutes Opfer. Ich werde den Kreislauf durchbrechen und allem ein Ende setzen. Aber Ihr!? Wie wollt Ihr jemals Frieden finden?
Robin
Ich starrte auf den Brief und konnte mich lange nicht rühren. Dann las ich ihn noch mal und noch mal, aber ich konnte nicht begreifen, was dort stand, und war wie gelähmt, auch wenn die Gedanken hinter meiner Stirn tanzten. Wen meinte Robin mit diesen Mördermachern? Mike und mich? Weil wir ihn in die Berkel geschmissen und riskiert hatten, dass er ertrinkt. Er klagte an, weil es so still um ihn herum war und niemand sich rührte? Dabei war er doch der Schweigende gewesen, von dem wir versucht hatten, eine Reaktion zu erzwingen. Und deshalb hatte er uns in einem Amoklauf alle töten wollen. Wieso hatte er es dann letztendlich doch nicht gemacht und stattdessen Selbstmord begangen?
Der selbst ernannte Rächer und Erlöser hatte uns verschont und sich für uns und den Rest der Welt geopfert? Sollten wir jetzt Jesus zu ihm sagen? Ich spürte, wie die Wut in mir hochstieg. Wahrscheinlich waren Robin diese heiligen Parolen aus dem Internet zu Kopf gestiegen: »Amok für Gott«. So ein Schwachsinn!
Ich musste meiner Wut Luft machen und mit irgendjemandem über diesen Brief reden. Vielleicht konnte ich sagen, ich hätte ihn hier im Keller gefunden. Aber auch dann blieb eigentlich nur eine Person, der ich dieses Geheimnis anvertrauen konnte: Mike.
Aber was, wenn er derjenige war, von dem Robin geschrieben hatte. Dieser Mördermacher. Tsunami, fiel es mir plötzlich wieder ein. Tsunami ist kein Mann. Waren Tsunami und der Mördermacher ein und derselbe? Mike? Wenn er Janni fast mit Absicht ein blaues Auge geschlagen hatte? Und sogar seine Mutter Angst
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