Hastings House
ihren Lebensunterhalt verdienten, bezweifelte er, dass eine Beschwerde viel erreichen würde – falls überhaupt einer von ihnen den Mut aufbrachte, eine solche Beschwerde vorzubringen.
Heidi Arundsen erwies sich trotz der Umstände als gute Gastgeberin. Sie bewohnte eine Studiowohnung mit einer winzigen Küche, die durch einen Tresen vom größeren Raum abgeteilt war. Ein Wandschirm sorgte dafür, dass Schlaf- und Wohnbereich voneinander getrennt wurden. Die Wohnung war aufgeräumt und sauber, was jedoch nicht über die Wasserflecken an der Decke, die sich von den Wänden lösenden Tapeten oder über die wenig fachmännisch verlegten elektrischen Leitungen hinwegtäuschen konnte.
“Tut mir leid”, sagte Heidi, als sie eintraten. “Tut mir wirklich leid.”
“Sie haben ein gemütliches Zuhause”, meinte er zu ihr. “Und das unter den widrigsten Umständen.”
“Tja … ähm … danke. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ich bewahre alles im Kühlschrank auf. In meinem Essen will ich kein Ungeziefer sehen.”
“Nein, danke, wirklich nicht.”
Didi war mitgekommen und durchquerte das Zimmer. “Hier sind die Kartons mit Bettys Sachen. Die Cops hatten bereits nach einem Tagebuch gesucht, aber nichts finden können.”
“Viel ist es nicht, aber ich habe es aufbewahrt. Für alle Fälle”, fügte Heidi hinzu.
Ihre Worte schienen in der Luft hängen zu bleiben.
Für alle Fälle.
Keine der beiden Frauen glaubte, Betty könnte jemals zurückkommen.
“Kann ich mir das ansehen?”, fragte Joe.
“Natürlich”, antwortete Heidi. “Ich mache uns einen Kaffee.”
Joe hörte, wie die beiden den Fernseher in der Küche einschalteten und sich leise unterhielten, während er die Kartons durchsuchte. Er wusste selbst nicht genau, was er zu finden hoffte. Im ersten Karton fand er Kleidung, gewaschene, nach Weichspüler duftende Kleidung, die ordentlich zusammengelegt war. Betty musste sehr zierlich gewesen sein. Ihre ohnehin knappen Röcke waren so winzig, dass Joe sie als Taschentücher hätte benutzen können.
Im zweiten Karton entdeckte er Fotos. Fotos einer jungen und unschuldigen, hoffnungsvollen Betty, mit strahlendem Lächeln, ein Baby in den Armen. Fotos von Menschen, die vielleicht ihre Eltern waren. Fotos von verschiedenen Frauen, darunter auch Betty, die im Central Park Softball spielten. Ein anderes Foto zeigte einen wunderschönen Windhund, darauf stand geschrieben:
Eines Tages!
Auf wieder anderen Bildern war Betty mit Freundinnen zu sehen, mal vor ihrem heruntergekommenen Wohnhaus, mal im Zoo.
Dann stieß er auf ein Foto, das ihn stutzig machte: Betty mit Genevieve O’Brien … und einem Mann. Er stand von der Kamera abgewandt, aber seine Körperhaltung sprach für sein Selbstbewusstsein, und der Anzug sah maßgeschneidert aus.
“Heidi?”, rief er.
“Ja?” Sie kam zu ihm, dicht gefolgt von Didi.
“Wer ist das?”
“Das ist Betty, und das da ist Genevieve. Ich dachte, das ist die Frau, nach der Sie suchen.”
“Ich meine den Mann. Wer ist dieser Mann?”
“Ich … ich weiß nicht.”
“Didi?”
“Keine Ahnung”, erwiderte sie. “Hey!” Sie zeigte auf den Fernseher. “Hey, Joe, deine Freundin ist in den Nachrichten.”
Er stellte den Karton zur Seite und ging mit den Frauen in die Küche. Der Bürgermeister persönlich war vor die Kameras getreten und forderte die Bürger von New York auf, sich in der U-Bahn vorsichtig zu verhalten.
Ken Dryer stand neben ihm und klärte die Reporter darüber auf, dass Leslie MacIntyre – die Archäologin, über die erst vor Kurzem im Zusammenhang mit dem spektakulären Fund auf der Baustelle berichtet worden war –, vor eine einfahrende Bahn gefallen und nur in letzter Sekunde gerettet worden war. Man habe sie zwar vorsorglich ins Krankenhaus gebracht, doch inzwischen sei sie wieder wohlauf. Ein Foto von Leslie wurde eingeblendet, das sie schmutzig und mit zerzaustem Haar zeigte. Es war in jenem Augenblick aufgenommen worden, als sie auf der Trage lag und ihn ansah, während die Sanitäter sie aus der U-Bahn brachten.
Die Nachrichtensprecherin ergänzte dann noch, dass Leslie neben ihrer Karriere als Archäologin gelegentlich der Polizei beratend zur Seite stand.
“Sie muss einen ganz besonderen Instinkt haben”, meinte ihr Co-Moderator. “Denkst du, da kommen Geister aus den Mauern hervor, um ihr zu helfen?”
“Wir werden sie mal in unsere Sendung einladen müssen”, sagte sie. “Eine aktuelle Meldung erreicht uns aus dem Mittleren
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