Hastings House
bewusst, dass sie ihn an den Händen hielt, als seien sie alte Freunde. Aber in gewisser Weise waren sie das ja auch, weil sie eine Sache verband: Beide hatten sie Matt geliebt.
Sie zog ihn näher an sich heran und stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um ihm ins Ohr zu flüstern: “Ich wollte, dass du siehst, wovon ich gesprochen hatte.”
“Was meinst du?”
“Na, die Stadt unter der Stadt.”
“Und du denkst”, entgegnete er leise, “dass vielleicht ein Verrückter die Prostituierten entführt, ermordet und ihre Leichen in einer solchen Gruft versteckt?” Er wollte nicht so skeptisch klingen, wie es ihm über die Lippen kam, doch Leslie sah ihn nur belustigt an.
“Vielleicht nicht gerade in einer Gruft, aber an anderen verlassenen Orten unter der Stadt. Weißt du eine bessere Erklärung?”, fragte sie ihn mit einem provozierenden Grinsen.
“Nein, also lass uns den Untergrund erkunden.”
Sie nickte zustimmend. “Ich bin für heute sowieso fast fertig. Und wie war dein Tag?”
Er wollte eben zu einer Antwort ansetzen, ließ es dann jedoch bleiben. Er hatte den Tag damit verbracht, alles noch einmal von vorn durchzugehen. Er war wieder in Genevieves Apartment gewesen, wo er ein weiteres Mal jeden Schnipsel und jede Notiz betrachtete, die sie irgendwo hatte liegen lassen. Er hatte abermals ihre letzten Arzttermine überprüft und die Bars aufgesucht, in denen sie mit ihren Freunden gefeiert hatte. Doch überall begegnete er nur Menschen, die sehnsüchtig und traurig von ihr sprachen. Außerdem hatte Joe erneut nachgesehen, ob ihre Kreditkarte inzwischen vielleicht doch benutzt worden war. Dann war er in die Straße gefahren, in der Didi weiter ihrem Gewerbe nachging. Ihr war weiter nichts mehr eingefallen, und von den anderen Prostituierten, mit denen Didi ihn bekannt machte, hatte er auch keine brauchbaren Hinweise bekommen. Am Ende schien es immer noch so, als sei die erste Begegnung mit Didi sein bislang größter Glückstreffer gewesen. Zumindest hatte sie Genevieve noch in eine dunkle Limousine einsteigen sehen.
Der Höhepunkt seines Tages war, Didi von dem Job als Kellnerin zu erzählen.
“Ihr Freund will mich wirklich einstellen?”, hatte sie skeptisch gefragt.
“Ja, aber legen Sie nur halb so viel Make-up auf und tragen Sie nichts Freizügiges … Sie wissen schon.”
“Sie gehen damit ein Risiko ein.”
“Das ganze Leben ist ein Risiko.”
“Dafür haben Sie bei mir was gut. Ich werde hingehen und mich vorstellen, und ich werde Sie nicht enttäuschen. Jetzt fehlt mir nur noch Genevieve. Sie ist die Einzige, die mir helfen könnte, meine Tochter zurückzubekommen.”
“Fangen Sie erst mal mit einem vernünftigen Job an, okay?”
“Auf jeden Fall.” Begeistert hatte sie ihn an sich gedrückt.
Der Tiefpunkt des Tages war der Moment, als er mit Eileen Brideswell telefonierte und ihr nichts weiter berichten konnte, als dass Genevieve in eine dunkle Limousine eingestiegen war.
“Leslie”, rief Brad Verdun aufgeregt. “Komm, sieh dir das an.”
Sie drehte sich abrupt um, als sie ihren Namen hörte, und sah Brad an, der im gleichen Augenblick Joe bemerkte. Sekundenlang stand er wie erstarrt da. Vielleicht lag es am Licht, auf jeden Fall wirkte er kreidebleich. Seine Lippen formten stumm ein Wort:
Matt.
“Bedaure, nein. Ich bin Joe Connolly, Matts Cousin”, stellte Joe sich vor, ging vorsichtig über den unebenen Boden und hielt Brad die Hand hin.
“Wow.” Verdun blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen.
Laymon drehte sich zu ihnen um und erschrak ebenfalls.
“Joseph Connolly”, rief Joe ihm zu. “Matts Cousin.” Glaubten hier eigentlich alle an Geister? Andererseits verbrachten diese Leute ihr halbes Leben mit der Vergangenheit und ihren Toten.
“Sie sehen ihm zum Verwechseln ähnlich”, erklärte Brad.
“Leslie hat mich gebeten zu kommen”, sagte er nur.
“Cool”, entgegnete Brad. “Sie hat Sie bloß noch nie erwähnt, das ist alles.”
Joe erwiderte nichts. Schließlich brauchte niemand zu wissen, dass sie sich erst am Tag zuvor begegnet waren.
Leslie stellte sich zu ihm und erklärte: “Ich mache jetzt Feierabend. Ihr kommt ja sicher allein zurecht.”
“Leslie”, gab Brad irritiert zurück, “du musst dir doch im Klaren darüber sein, wie bedeutend …”
“Ja, ich weiß”, unterbrach sie ihn und fuhr fröhlich fort: “Und wir werden hier noch Wochen zubringen. Und sei bitte so gut, Brad, sprich du mit den Reportern, okay?”
“Ja, ja,
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