Hastings House
Hielt sich sein Geist im Hastings House auf? Oder hatte sie sich nur gewünscht, ihn zu sehen, so wie es in ihren Träumen geschah? Und waren seine Bemerkungen ihr bloß in den Sinn gekommen, weil sie mit Joe gesprochen hatte – einem Mann, der davon überzeugt war, dass es sich nicht um einen Unfall handelte?
“Matt?”, flüsterte sie in den leeren Raum hinein. Doch es kam keine Antwort.
Sie duschte, dann zog sie sich an und entschied sich für ein Kleid aus schwarzem Samt, das zum wechselhaften Wetter passte. Als sie ihr Zimmer verließ, waren die Führungen beendet, nur Melissa war noch im Haus. Sie zählte Belege und hielt das Kassenbuch auf dem Laufenden. Als Leslie vorbeiging, pfiff ihr Melissa hinterher. “Das ist ja ein richtiger Hingucker.”
“Danke.”
“Auf dem Weg zu einem Galadinner?”, fragte Melissa.
“Nein, Abendessen mit Freunden.”
“Ich habe von der Gruft gehört, die Sie entdeckt haben.”
“In die ich gefallen bin.”
Melissa seufzte verträumt. “Glauben Sie, ich könnte mich freiwillig melden, um mit Ihnen zu arbeiten?”
“Aber sicher. Ich werde das arrangieren.”
“Vielen, vielen Dank”, sagte Melissa und verzog noch beim Reden besorgt das Gesicht.
“Stimmt etwas nicht?”
“Ich … ich glaube, ich habe einen Zwanziger verloren.”
“Irgendwo muss er ja noch sein”, meinte Leslie.
“Ja, aber … oh, da ist er ja. Ich schwöre Ihnen, gerade eben hat er noch nicht dagelegen.”
“Vielleicht lag irgendwas darauf.”
Melissa grinste sie an. “Vielleicht helfen mir ja auch die Geister ein bisschen. Was meinen Sie?”, fragte sie sehnsüchtig.
“Ja, vielleicht.”
Jemand klopfte an die Haustür. “Gute Nacht, Melissa. Wir sehen uns morgen früh”, verabschiedete sich Leslie.
“Genau. Schönen Abend. Sie sehen umwerfend aus.”
“Danke.”
Joe wartete vor der Tür. Sie zwang sich zu einem Lächeln, als sie ihn begrüßte. Er war nun einmal nicht Matt, das war ihr klar. Matt und Joe waren zwei verschiedene Menschen mit individuellen Charakteren, doch heute Abend erinnerte er sie so unglaublich an Matt, wie er in der letzten Nacht ausgehen hatte …
Sie benutzten sogar das gleiche Aftershave.
Aber er sah gut aus, das dunkelblonde Haar war frisch gewaschen und noch ein wenig feucht. Sein Gesicht hatte etwas Kantiges, Schroffes, er war groß und muskulös, die Schultern waren noch etwas breiter als bei Matt. Vielleicht war Matt ein oder zwei Zentimeter größer gewesen.
“Ist alles in Ordnung?”, fragte er verwundert.
“Natürlich. Aber wo ist Robert?”
“Wir treffen uns mit ihm ein Stück die Straße runter. Heute Abend geht es in ein gutes altes amerikanisches Steakhouse.”
“Dann wollen wir mal”, gab sie zurück.
Vom Fußweg aus blickte sie noch einmal zum Haus zurück – es stand da wie aus einem Bilderbuch über die Kolonialzeit. Und drum herum pulsierte das moderne Manhattan. Lebendig, ungestüm, ein wenig verrucht und immer noch ein Ort, an dem Menschen zur Welt kamen, aufwuchsen und starben. Gegenwart und Vergangenheit, Seite an Seite. Unzählige Geschichten über der Erde, unzählige Geschichten unter der Erde. Sie schloss kurz die Augen. Nicht weit von hier entfernt waren die Türme des World Trade Centers eingestürzt. Eine solche Tragödie, eine grauenvolle Zerstörung. Nach wie vor hing eine leichte Traurigkeit über Downtown, auch wenn sich so vieles längst wieder normalisiert hatte. Irgendwie waren nur wenige Blocks entfernt jahrhundertealte Kirchen stehen geblieben. Ein Teil der Vergangenheit blieb erhalten, ein anderer ging verloren.
New York war eine erstaunliche Stadt. Und genauso erstaunlich war, dass dieses Haus immer noch dastand, auf allen Seiten von der Neuzeit umgeben. Jedes Jahrzehnt bewirkte eine Veränderung, hielt Leslie sich vor Augen.
Das Haus war auf irgendeine Weise der Schlüssel zu einem Mord.
Zum Mord an Matt.
“Was ist?”, wollte Joe wissen.
“Nichts”, antwortete sie rasch und setzte ein Lächeln auf. In Wahrheit war sehr wohl etwas. Zwei Welten kollidierten miteinander. Geschichten über der Erde, Geschichten unter der Erde.
Er versuchte ihr zu folgen, konnte es jedoch nicht.
Aber heute Morgen hatte sie ihn gesehen. Zwar nicht lange, doch wenigstens hatte sie ihn gesehen. Trotzdem …
Er musste loslassen.
Nein, er konnte sich nicht von ihr verabschieden. Noch nicht. Schließlich hatte er sie ja gerade erst wiedergefunden. Und nun war Joe wegen Leslie zum Haus gekommen. Joe hatte das
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