Hastings House
Rückspiegel konnte er das Haus erkennen, das ihn – einem Lebewesen gleich – zu beobachten schien. Die beiden beleuchteten Fenster im ersten Stock hätten ebenso gut Augen sein können, das Oberlicht über der Eingangstür wirkte wie ein Mund.
In einem Zimmer ging das Licht aus.
Die Alarmanlage ist eingeschaltet, sagte er sich. Die hochmoderne Alarmanlage.
Außerdem lag das Haus nicht weit vom One Police Plaza entfernt. Leslie war in Sicherheit. Und er hielt sich vor Augen, dass sie ihn nicht ins Haus gebeten hatte.
Dennoch machte er kehrt. Er wusste, dass er sich ganz darauf konzentrieren sollte, Genevieve O’Brien zu suchen. Aber er war auch überzeugt davon, das Richtige zu tun, den richtigen Fährten zu folgen.
War die junge Frau vielleicht schon tot?
Das ließ sich unmöglich sagen – zumindest so lange nicht, bis er herausgefunden hatte, warum und wohin sie gegangen war.
Er stieß einen lauten Fluch aus, fuhr einmal um den Block und stellte seinen Wagen wieder ab.
Genau vor dem Hastings House.
Wo er die Nacht dösend auf dem Fahrersitz verbrachte.
8. KAPITEL
I n dieser Nacht kam Matt nicht zu ihr.
Leslie lag lange Zeit wach. Sie sehnte sich nach ihm und wartete darauf, dass er ihr erschien.
Schließlich zwang sie sich einzuschlafen, damit sie ihn in ihre Träume holen konnte. Doch sie wachte schon früh am Morgen wieder auf, wobei ihr nur zu deutlich bewusst war, dass Matt in dieser Nacht nicht einmal in ihren Träumen erschienen war. Sie stand auf, fuhr sich durch ihr zerzaustes Haar und schaute sich um.
“Bitte”, flüsterte sie. “Ich weiß, dass du hier bist. Bitte … du musst dich mir zeigen.”
Schweigen war die einzige Antwort, die sie erhielt.
Obwohl es noch sehr früh war, wusste sie, dass sie nicht wieder einschlafen würde. Also nahm sie eine heiße Dusche, zog sich an und ging nach unten, um den Kaffee aufzusetzen. Als sie die Kaffeekanne unter den Wasserhahn hielt, bemerkte sie plötzlich etwas am Rand ihres Gesichtsfelds. Einen Moment lang hielt sie inne, bis ihr auffiel, dass die Kanne übergelaufen war und ihr das Wasser über die Hand lief. Sie drehte den Hahn zu und schaute zum Herd.
Dort stand eine Frau und rührte offenbar in einem großen Topf, der auf einem geisterhaften Feuer stand.
Leslie gab keinen Laut von sich. Gespannt beobachtete sie die Szene. Die Frau war jung und hübsch, auf ihrem weichen blonden Haar saß eine Morgenhaube.
Nach einigen Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, sprach Leslie sie an. “Gehen Sie bitte nicht weg”, sagte sie leise.
Die Frau erstarrte mitten in ihrer Bewegung, und Leslie war davon überzeugt, dass sie sich trotz ihrer Bitte gleich in Nichts auflösen würde.
“Bitte”, redete sie weiter. “Wer sind Sie? Und warum sind Sie hier?”
Die junge Frau begann zu verblassen, nahm dann aber klarere Konturen an als zuvor.
“Ich wurde verraten”, antwortete sie. Tränen schimmerten in ihren großen Augen. “Von jemandem, den ich liebte. Dem ich vertraute”, flüsterte sie.
Plötzlich zuckte sie zusammen, drückte den Rücken durch und fiel schließlich vornüber, woraufhin sie dann ganz verschwand.
Unbewusst hielt Leslie die Luft an und starrte lange Zeit intensiv auf die Stelle, an der die junge Frau gestanden hatte. Doch sie blieb verschwunden. Leslie wusste, dass sie vorläufig auch nicht zurückkehren würde. Dennoch verspürte sie eine gewisse Erleichterung. Diese Erscheinung war nicht bloß aufgetaucht, sie hatte auf Leslies Worte reagiert.
Von neuem Leben erfüllt und mit einem Mal hellwach wandte sie sich ab und kümmerte sich weiter um den Kaffee. Ein paar Minuten später hörte sie Geräusche im Flur, und Melissa trat ein. “Sie sind aber früh auf.”
“Und Sie erscheinen früh zur Arbeit”, erwiderte Leslie.
Melissa nickte. “Ich habe noch Papierkram zu erledigen. Ich muss immer noch an gestern Abend denken. In diesem Haus spukt es ganz bestimmt. Ich glaube, ein Geist hat mir den verschwundenen Schein zurück auf den Tisch gelegt.”
“Wer weiß?”, gab Leslie nachdenklich zurück, dann stutzte sie. “Melissa, wie lange arbeiten Sie schon hier?”
“Also, eingestellt wurde ich kurz vor der Eröffnungsparty, doch dann musste das Haus ja wieder geschlossen werden, weil … na ja, Sie wissen schon.”
“Und was geschah dann?”
“Greta – sie besteht darauf, dass wir sie Greta nennen – sagte, sie bedauere es, aber es sei nicht möglich, uns während der Renovierung
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