Hastings House
weiß, du hast auch jemanden verloren … ein Mädchen …”
Er musterte sie einen Moment lang und lächelte sie dann traurig an. “Das ist lange her.”
“Wirst du es je vergessen?”
“Man vergisst es niemals, aber irgendwann schaut man nach vorn. Man lernt zu lachen, wenn man sich an die guten Dinge erinnert. Ein bestimmtes Lächeln, eine Geste. Natürlich sind da auch die Schuldgefühle. Warum lebe ich, wenn ein anderer Mensch tot ist, der es genauso verdient hätte weiterzuleben? Ich habe mit meiner Vergangenheit Frieden geschlossen.” Eine Zeit lang schwieg er. “Irgendwann wird dir das auch gelingen. Allerdings fällt es einem schwerer, wenn es nicht der normale Lauf der Natur war. Ich vermisse bis heute meine Eltern, doch die beiden hatten ein gutes Leben geführt. Ich glaube wirklich, dass mein Vater aus Einsamkeit starb, nachdem meine Mutter nicht mehr lebte. Aber sie beide waren schon älter, und für sie war die Zeit gekommen. Wenn dagegen jemand stirbt, der noch jung ist und dem eine natürliche Lebensspanne verwehrt bleibt, dann sind wir verbittert. Das Leben ist immer ein Geschenk, ob es nun lange Zeit währt oder nicht, und solange wir leben, müssen wir diese Tatsache würdigen.”
“Glaub mir”, versicherte sie ihm. “Ich bin dankbar dafür, dass ich lebe.”
“Dann musst du alles aus diesem Leben für dich herausholen. Nicht nur für dich, sondern auch für Matt. Folge deinem Traum und schau in die Zukunft.”
Leslie reagierte mit einem Lachen auf seine Worte. “Tja, aber für mich heißt das, in der Vergangenheit zu wühlen.”
“Zweifellos ja.” Er legte seinen Arm um sie und drückte sie an sich.
Eine Polizistin stand an der Ecke nahe der Ausgrabungsstätte und nickte ihnen freundlich zu. Leslie fiel die verstärkte Polizeipräsenz rings um die Baustelle sofort auf, woraufhin sie stehen blieb und sich umsah. So viel Neues war auf den alten Dingen erbaut worden – und auf dem, was sich tief unter ihnen befand. Hastings House war Teil der Underground Railroad gewesen. Leslie wusste nicht, warum sich dieser Gedanke ihr immer wieder aufdrängte. Das Wort “Untergrund” musste nicht zwangsläufig “unter der Erde” bedeuten, überlegte sie. Manchmal war damit auch gemeint, dass sich etwas dem Auge der Autorität entzog.
New York war eine Stadt, die in beider Hinsicht im Untergrund existierte.
“Was genau fesselt dich gerade?”, fragte Joe.
“Wie?”
“Du siehst sehr eindringlich auf
irgendetwas.”
“Entschuldige. Ich sah nur die Baustelle und die Gebäude und … ich habe einfach nur geschaut.”
“Das ist New York. Man muss diese Stadt einfach lieben”, meinte er.
“Tu ich ja auch. Sieh dir nur die vielen Polizisten an.”
“Dein kleiner ‘Unfall’ gestern hat die Ausgrabungen zu einem richtig großen Fund gemacht”, erklärte Joe.
Am Tor standen zwei Wachen. Als Leslie nach ihrem Dienstausweis zu suchen begann, nickte der größere Mann und meinte: “Sie sind uns bekannt, Miss MacIntyre. Kommen Sie rein.”
“Okay, dann lasse ich dich jetzt allein”, sagte Joe zu ihr.
“Und wir sehen uns heute Abend – falls du wach sein solltest”, zog sie ihn auf.
“Ich werde wach sein”, versprach er ihr.
Sie betrat die Baustelle und bahnte sich zwischen den abgeteilten Feldern ihren Weg zur Gruft.
Lampen, die auf keinen Fall Feuer fangen konnten, waren in zwei Ecken des Raumes aufgestellt worden. Leslie ließ sie dort, wo sie standen, und holte stattdessen ihre Taschenlampe heraus, um sich umzusehen.
Laymon hatte sein Territorium bereits abgesteckt. An zwei Ecken des Raumes waren große Schilder mit der Aufschrift “Nicht anfassen!” an die Wand gelehnt worden.
In der Ecke, in der Brad und Laymon das Kirchenregister gefunden hatten, stand kein solches Schild. Sie konnte nur hoffen, dass man das Buch nicht bereits weggebracht hatte, um es zu konservieren. Schuldgefühle drängten sich ihr auf, weil sie genau wusste, dass jede einzelne Berührung dem alten Papier schaden konnte. Doch sie hatte das Gefühl, dort etwas über die Frau zu erfahren, die sie gefunden hatte, und genauso über das Mädchen namens Mary. Sie war fest entschlossen, Marys sterbliche Überreste zu entdecken, damit sie Mutter und Tochter im Tod wiedervereinen konnte.
Vorsichtig begab sie sich in die Ecke und fand das Buch. Es war in Leder gebunden und hatte so viele Jahre in dieser luftdicht abgeschlossenen Umgebung gelegen, dass es sich in einem viel besseren Zustand befand,
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