Hastings House
Freiheit auf die Barrikaden ging. Und wenn Sie heute durch die Straßen gehen, dann sehen Sie die lebendigste Stadt der Gegenwart. Aber ich hoffe, wenn Sie nachher das Hastings House verlassen, dass Sie dann auch mehr über die Stadt unter der Erde und über die Sünden wissen, die dort vergraben liegen.”
Die Stadt unter der Erde.
Begrabene Sünden.
Beide Formulierungen wollten Joe nicht loslassen. Wie viele Menschen verschwanden, als hätte es sie nie gegeben? Die Flüsse waren zu unsicher – manchmal lösten sich Leichen von den Gewichten, mit denen man sie versenkt hatte, und kehrten an die Oberfläche zurück. Außerdem war New York kein guter Ort, um Löcher zu graben, die nicht auffallen sollten.
Die Stadt unter der Erde.
Aber wo sollte er mit seiner Suche beginnen?
Leslie war froh darüber, dass sie durch ihren Job Zugang zu Bereichen der Bibliothek hatte, die den meisten Menschen verwehrt blieben. Und sie hatte Glück, denn die Aufzeichnungen über das Hastings House waren in einem guten Zustand.
Sie musste sich durch eine Fülle von Informationen kämpfen, was die verschiedenen Funktionen anging, die das Haus über die Jahre hinweg innegehabt hatte. So war das Hastings House unter anderem als Schule und als Bürogebäude genutzt worden. So viele Veränderungen hatte man im Lauf der Zeit vorgenommen, dass die ursprünglichen Konturen des Gebäudes nahezu in Vergessenheit geraten waren.
Erst als vor zehn Jahren der Abriss drohte, stieß man auf seine wahre Vergangenheit. In mühevoller Kleinarbeit machte man alle Um- und Anbauten, jede später angebrachte Verzierung rückgängig, um das historische Juwel in seiner ursprünglichen Form zu präsentieren.
Endlich gelangte Leslie zur frühen Geschichte des Hauses. Erbaut wurde es gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts von einem Kapitän, der es nach seinem Tod seiner Nichte Elizabeth hinterließ.
Leslies Puls schlug merklich schneller. Dass es so einfach sein würde, hatte sie nun wirklich nicht erwartet.
Elizabeth heiratete einen Kaufmann namens Jacob Martin, der 1803 erneut heiratete. Aus dem Eintrag im Kirchenregister ging hervor, dass die einundzwanzig Jahre alte Elizabeth Martin für tot gehalten wurde. Es fand sich aber auch ein Vermerk eines Priesters, der Mr. Martin nicht wieder verheiraten wollte: “Jacob behauptete zunächst, seine Frau habe ihn und ihr gemeinsames Kind verlassen, um mit Gordon Black zusammen zu sein, einem Seemann, der oft in den Hafen gekommen war, aber seit Längerem nicht mehr gesehen wurde. In seiner Eile, erneut den Bund der Ehe einzugehen, hat er die Ältesten davon überzeugt, dass Elizabeth auf der Reise umgekommen sein muss, denn sonst wäre sie zurückgekehrt, um ihr Kind zu holen, die kleine Sarah. Ich fürchte, ein Mann, der so vom Tod seiner Frau überzeugt ist, könnte Zeuge dieses Todes gewesen sein. Er scheint jedoch ein Eckpfeiler unserer Gemeinde zu sein, und es ist Elizabeth, die von den angesehenen Männern um uns herum mit Verachtung gestraft wird, ob sie nun tot ist oder noch lebt.”
“Die arme Elizabeth”, flüsterte Leslie und schüttelte betrübt den Kopf. Einen Moment lang hielt sie inne und merkte, wie ihr schwer ums Herz wurde.
Matt, warst du bei mir? Hast du versucht, es mir zu sagen? Ich kann Elizabeth sehen und mit ihr reden. Warum kann ich
dich
nicht sehen? Warum kann ich nicht mit
dir
reden?
“Also gut”, sagte sie etwas lauter. “Du wolltest, dass ich Elizabeth helfe, und das werde ich auch tun. Aber lass mich dir auch helfen … und mir selbst.”
Sie verstummte. Sie war allein und führte Selbstgespräche! Es wurde wirklich Zeit, dass sie sich wieder an ihre Arbeit begab. Schon zuvor hatte sie sich mit diesen Aufzeichnungen über das Hastings House befasst, doch damals war sie auf der Suche nach Hinweisen auf alte Delfter Kacheln und Silberbesteck gewesen …
Auf einmal erstarrte sie mitten in der Bewegung. Sie befand sich in einem separaten Bereich der Bibliothek, in dem sie ganz allein war. Dennoch kam es ihr so vor, als würde sie beobachtet. Ein unheimliches Gefühl ergriff von ihr Besitz. Es erinnerte sie an den Zwischenfall in der Gruft.
Und es war keinesfalls so, als würde ein Geist sie verfolgen.
Geister waren üblicherweise nur eine fahle Essenz des jeweiligen Verstorbenen. Sie wollten niemandem etwas zuleide tun, sie wollten, dass man ihnen half. Manche von ihnen waren verbittert oder hatten ihren Spaß daran, den Lebenden Streiche zu spielen. Weder Adam Harrison
Weitere Kostenlose Bücher