Hastings House
noch Nikki Blackhawk waren jemals einem wirklich boshaften Geist begegnet. Feindselig waren sie nur demjenigen gegenüber eingestellt, der sie zum Geist hatte werden lassen.
Sie stöhnte leise und ließ den Kopf auf ihre verschränkt auf dem Tisch liegenden Arme sinken. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie wohl eine Unterhaltung mit einem Therapeuten aussehen würde.
Bin ich paranoid? Nein, ich glaube nicht. Ich habe keine Angst vor der Dunkelheit, und ich fürchte mich nicht vor Geistern. Einige meiner besten Freunde sind sogar Geister. Es kann sein, dass ich nie wieder mit einem Mann ausgehe, weil es da diesen spektakulären Geist gibt, der mich nachts besucht … aber es ist so, dass ich mich verfolgt fühle. Nicht von einem Geist, sondern … von etwas Bösem.
Auf einmal hob sie den Kopf und kam zu dem Schluss, dass viel zu viel Arbeit auf sie wartete, als dass sie es sich erlauben dürfte, imaginäre Therapeutengespräche zu führen.
Sie rief Brad auf seinem Mobiltelefon an.
“Leslie?”, fragte er. “Wo bist du?”
“In der Bibliothek. Haben die Arbeiter alles gesichert?”
“So gut wie. Sie schätzen, dass sie gegen drei Uhr fertig sein werden.”
“Kannst du zum Hastings House kommen? Ich muss dir was Aufregendes zeigen.”
“Um wie viel Uhr? Ich brauche selbst auch noch ein bisschen Zeit.”
“Um vier?”
“Einverstanden. Was hast du denn entdeckt?”
“Das wirst du dann sehen.”
Zunächst rief Joe in Genevieves altem Büro an. Nachdem er sich ein paar Minuten lang durch das sprachgesteuerte Ansagesystem gekämpft hatte, wurde er endlich zu Alice durchgestellt. Zum Glück hatte sie die Akten bereits kopiert und war einverstanden, sich mit ihm vor dem Gebäude zu treffen, um ihm die Kopien zu übergeben.
Er nahm die Kopien an sich, gab Alice einen dicken Kuss auf die Wange und versprach, zum Dank mit ihr im besten Lokal der Stadt zu Abend zu essen. Während sie errötete, versicherte sie ihm zwar, dass diese Einladung nicht nötig sei, aber man sah ihr die Freude über sein Dankeschön deutlich an.
Anschließend eilte Joe nach Hause. Eine innere Stimme sagte ihm, dass es auf jede Minute ankam. Dennoch musste er sich duschen, rasieren, umziehen und alles auf die Reihe bringen, was zu erledigen war.
Die Dusche musste aber noch ein paar Minuten warten. Als Erstes begab er sich mit einer Spitzhacke bewaffnet in den Keller, um sich die Mauer vorzunehmen. Es war dumm, dass er so vorgehen und einigen Schaden anrichten musste, doch ihm fehlte die Zeit, um einen anderen Weg zu wählen.
Warum meinten eigentlich alle Leute, sie müssten ihre Geheimnisse – oder ihre begrabenen Sünden – am Kamin einmauern? Zunächst suchte er völlig vergeblich. Großartig! Aus einer plötzlichen Laune heraus hatte er den halben Keller in einen Trümmerhaufen zerlegt! Einen letzten Versuch wollte er noch wagen, und in diesem Moment traf er auf einen Hohlraum.
Hinter den Ziegelsteinen befand sich ein kleines Regal, in dem eine große Tabakdose aus der Zeit des Bürgerkriegs stand.
Er warf einen Blick hinein und stellte fest, dass sich darin tatsächlich Notenblätter befanden. Eine Weile konnte er seinen Fund nur ungläubig anstarren, dann überkam ihn ein leichtes Unbehagen, und er sah sich vorsichtig im Keller um.
Was denn? Fing er jetzt etwa an, an Geister zu glauben?
Steckte dahinter tatsächlich nur Logik und Recherche, wie Leslie behauptete?
“Ich bringe das zu einem Musikverlag”, erklärte er laut, was ihm gleich wieder peinlich war. Er war allein in seinem Haus und führte Selbstgespräche. Nein, schlimmer noch. Er sprach mit jemandem, der gar nicht da war. Jemand, der seit über hundert Jahren tot war.
Trotzdem fügte er laut hinzu: “Ich verspreche es hoch und heilig.”
Er nahm die Dose an sich und verließ den Keller, immer noch getrieben von dem Gefühl, sich beeilen zu müssen. An seinem Schreibtisch sah er schnell die Kopien von Robert Adairs Akten und die von Alice durch. Nach einer Weile stieß er in beiden Stapeln auf den gleichen Namen: Heidi Arundsen.
Genevieve hatte mit ihr gearbeitet, und die Polizei hatte mit ihr über eine der Frauen gesprochen, die gut einen Monat vor Genevieve verschwunden war.
Auf dem Weg zur Tür wurde er durch einen Anruf aufgehalten.
Didi Dancer.
“Joe?”, fragte sie zögerlich.
“Didi? Wie geht es dir? Alles in Ordnung?”
“Mir geht’s gut. Aber ich glaube, ich hab jemanden gefunden, der dir weiterhelfen
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