Hasturs Erbe - 15
vorbereiten können.
„Du bist still, Vetter”, sagte Gabriel, als sie zusammen zurückgingen. „Hast du zuviel getrunken? Geh besser heim und schlaf dich tüchtig aus. Morgen wirst du wieder beieinander sein.” Er wünschte ihm freundlich eine gute Nacht und ging in sein Quartier.
Die Nachtwache, die über den Hof patrouillierte, sagte: „Du bist ein paar Minuten zu spät, Kadett. Es ist deine erste Übertretung, daher werde ich dich dieses Mal nicht melden. Tu es nur nicht wieder. In der Baracke des ersten Jahrgangs sind die Lichter schon aus. Du wirst dich im Dunkeln ausziehen müssen.”
Regis suchte sich auf leicht unsicheren Beinen den Weg in die Baracke. Gabriel hatte recht, dachte er überrascht, doch es war ihm keineswegs unangenehm, daß er zuviel getrunken hatte. Er war Trinken nicht gewöhnt, und heute abend waren es mehrere Becher Wein gewesen. Als er die Kleider ablegte, fühlte er sich verwirrt und unkonzentriert. Mit einer merkwürdigen Verschwommenheit dachte er, daß es ein bedeutsamer Tag gewesen sei, doch welche Bedeutung er hatte, wußte er noch nicht. Der Rat. Die irgendwie schockierende Erkenntnis, daß er zu den Gedanken seines Großvaters vorgestoßen war, Lew durch Berührung erkannt hatte, ohne ihn gesehen oder gehört zu haben. Der merkwürdige streitähnliche Vorfall mit Danilo. All das trug zu seiner Verwirrung bei, die mehr war als einfache Trunkenheit. Er fragte sich, ob man ihm Kirian in den Wein gegeben hatte, hörte, wie er laut kicherte und verfiel dann rasch in einen unruhigen, von Alpträumen heimgesuchten Schlaf.
Er war wieder in Nevärsin, in dem alten Schlafsaal der Studenten. Schnee trieb durch die hölzernen Fensterladen und lag in dichter Decke auf den Betten der Novizen. In seinem Traum waren, wie es wirklich ein- oder zweimal geschehen war, einige Schüler zusammen in ein Bett geklettert und hatten die Decken und ihre Körperwärme gegen die bittere Kälte geteilt. Wenn sie am Morgen erwischt wurden, schalt man sie heftig, weil sie die harte Regel verletzt hatten. Dieser Traum kehrte immer wieder. Jedes Mal entdeckte er einen anderen fremden nackten Körper in seinen Armen und wachte tief verstört mit einem Gefühl aus Angst und Schuld auf. Jedesmal, wenn er wieder aus diesem Wiederholungstraum aufwachte, wurde er aufgeregter und beunruhigter, bis er schließlich tiefere, ruhigere Schlafschichten erreichte. Nun war er sein eigener Vater, der sich in der Dunkelheit auf einem kahlen Hügel niedergekauert hatte und um den herum merkwürdige Feuer explodierten. Er zitterte vor Angst, als Männer um ihn her tot umfielen und näher und näher herankamen. Er wußte, daß er in wenigen Minuten ebenfalls von einem dieser Feuer in Stücke zerfetzt werden würde. Dann fühlte er in der Dunkelheit etwas näher an sich herankommen, das ihn hielt und seinen Körper mit seinem eigenen schützte. Regis wurde ruckartig wach und zitterte. Er rieb sich die Augen und sah sich in der stillen Baracke um, die nun der Mond schwach erhellte. Er sah die verschwommenen Umrisse der anderen schlafenden Kadetten, die schnarchten oder im Schlaf murmelten. Keiner von ihnen war wirklich, dachte er, ehe er sich wieder auf die harte Matratze legte.
Nach einer Weile begann er wieder zu träumen. Dieses Mal wanderte er über eine öde, graue Landschaft, wo nichts zu erkennen war. Irgendwo weinte jemand in dem grauen Raum, schluchzte heftig und eindringlich. Regis wandte sich immer wieder in eine andere Richtung, nicht sicher, woher das Weinen klang, oder versuchte, von dem elenden Ton fortzukommen. Durch die Schluchzer hindurch klangen zitternd Worte. „Ich will nicht. Ich will nicht. Ich kann nicht.” Jedes Mal, wenn das Weinen einen Moment nachließ, hörte man eine harte Stimme, die fast vertraut klang: „Oh ja, du willst. Du weißt, daß du gegen mich nichts ausrichten kannst.” Und dann wieder: „Hasse mich, soviel du nur willst, das mag ich um so lieber.” Regis zuckte vor Furcht zusammen. Dann war er allein mit dem Weinen, den gebrochenen Schluchzern des Protests und des Flehens. Er suchte in der grauen Einsamkeit weiter, bis ihn in der Dunkelheit eine Hand berührte, ein grobes, ungehöriges Suchen, halb schmerzhaft, halb aufregend. Er rief: „Nein!” Dann fiel er erneut in tieferen Schlaf. Dieses Mal träumte er, er sei wieder im Hof der Schüler von Nevarsin und übte mit hölzernen Schwertern. Regis hörte das Keuchen von zwei Personen, verdoppelt und verstärkt in dem großen,
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