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Hasturs Erbe

Hasturs Erbe

Titel: Hasturs Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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verbringen.«
    Kann eine Nacht ein ganzes Leben lang dauern?
    Vielleicht. Wenn man weiß, daß das Leben nur aus einer einzigen Nacht besteht.
    Ich sagte mit rauher Stimme, wobei ich sie in meine Arme schloß: »Laß uns keine Zeit vergeuden.«
    Wir waren beide nicht kräftig genug, um uns ausgiebig körperlich zu lieben. Die meiste Zeit in dieser Nacht hielten wir einander umfangen. Manchmal redeten wir ein wenig, meistens streichelten wir uns stumm. Ich war aufgrund meines langen Trainings, unwillkommene Gedanken zu verdrängen, in der Lage, die Gedanken an das Morgen fast vollständig zu negieren. Merkwürdigerweise bedauerte ich am stärksten nicht unseren bevorstehenden Tod, sondern daß uns nicht lange, ruhige Jahre des Zusammenlebens gegönnt waren, die genaue Kenntnis, daß Marjorie niemals die Berge in der Nähe Armidas sehen würde, niemals als meine Braut dort einziehen würde. Gegen Morgen weinte Marjorie ein wenig um das Kind, das auszutragen sie nicht lange genug würde leben können. Schließlich kuschelte sie sich in meine Arme und fiel in unruhigen Schlaf. Ich lag wach und dachte an meinen Vater und meinen ungeborenen Sohn, jenen allzu schwachen Lebensfunken, der, eben erst erweckt, bald wieder ausgelöscht sein würde. Ich wünschte, Marjorie wäre dieses Wissen erspart geblieben. Nein, es war richtig, daß jemand um ihn weinen sollte, und ich war schon jenseits aller Tränen.
    Noch ein Tod auf meinem Gewissen …
    Schließlich, als die Sonne schon fast die fernen Bergspitzen rötlich überhauchte, schlief auch ich ein. Es war wie ein letztes Geschenk einer unbekannten Göttin, daß ich keine bösen Träume hatte, keine Visionen von Feuer, nur gnädige Dunkelheit, der dunkle Mantel von Avarra, der unseren Schlaf bedeckte.
    Ich erwachte und hielt Marjorie immer noch in den Armen. Der Raum war von Sonnenlicht erfüllt. Ihre goldenen Augen waren weit aufgerissen und starrten mich angstvoll an.
    »Bald werden sie kommen«, sagte sie.
    Ich küßte sie langsam und zärtlich, bevor ich aufstand. »Um so weniger lange werden wir warten müssen«, sagte ich und schob den Riegel zurück. Ich zog meine besten Kleider an, suchte verbissen mein feinstes Seidenhemd und dazu eine Jacke und Hosen aus goldfarbenem, gefärbtem Leder aus dem Bündel. Ein Erbe der Comyn ging nicht wie ein gewöhnlicher Krimineller in den Tod. Ein ähnliches Gefühl mußte Marjorie gestern überkommen haben, denn sie trug offensichtlich ihr schönstes Kleid, hellblau, aus spinnenzarter Seide und mit tiefem Halsausschnitt. Anstatt wie sonst ihr Haar zu flechten, hatte sie es mit einem Band auf dem Kopf zusammengebunden. Sie sah würdig und wunderschön aus. Bewahrerin. Comynara .
    Diener brachten uns das Frühstück. Ich war dankbar, daß Marjorie stolz lächeln und ihnen in ihrer normalen, anmutigen Weise danken konnte. Ihr Gesicht trug keine Spur der Tränen und des Entsetzens von gestern. Wir hielten die Köpfe hoch erhoben und lächelten uns an. Keiner wagte ein Wort zu sagen.
    Wie ich vorausgesehen hatte, erschien Kadarin, als wir still die letzten Früchte von dem Tablett verzehrten. Ich hatte nicht gewußt, welchen Haß er in mir auslöste. Der Gedanke, ihn zu töten, das Verlangen, meine Finger in seiner Kehle zu vergraben, war so stark, daß mir davon übel wurde.
    Und dennoch – wie soll ich es ausdrücken – gab es eigentlich nichts mehr, was zu hassen war. Ich blickte nur kurz auf und wandte schnell den Blick wieder ab. Er war nicht einmal mehr ein Mensch, sondern etwas anderes. Ein Dämon? Sharra in Gestalt eines Menschen? Der richtige Kadarin existierte nicht mehr. Wenn man ihn tötete, würde man das Ding, das ihn besaß, nicht vernichten.
    Noch ein Punkt für Sharra. Dieser Mann war mein Freund gewesen. Die Zerstörung von Sharra würde ihn nicht nur töten, sondern auch rächen.
    »Hast du es geschafft, ihn zur Vernunft zu bringen, Marjorie?« sagte er. »Oder muß ich ihn wieder unter Drogen setzen?«
    Ihre Fingerspitzen berührten meine Hand, aber so, daß er es nicht sehen konnte. Ich wußte, er sah es nicht, wenn er es auch früher jederzeit bemerkt hätte. Ich sagte: »Ich werde tun, was du von mir verlangst.« Ich konnte es nicht über mich bringen, ihn Bob oder auch nur Kadarin zu nennen. Er war von dem Mann, den ich gekannt hatte, meilenweit entfernt.
    Als wir durch die Flure gingen, blickte ich Marjorie von der Seite an. Sie war sehr bleich. Ich spürte, wie sich das Leben in ihr zusammenkrampfte. Sharra hatte

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