Hauch der Verdammnis
Hoffnung, Josh würde wieder auftauchen, aber als der Schulbus schließlich zur Abfahrt bereit war, musste er einsteigen. Auf dem Heimweg hatte er immer wieder nach hinten geschaut. Vielleicht tauchte Josh doch noch auf, vielleicht überholte er den Bus mit wildem Gehupe und wartete dann an der nächsten Haltestelle auf ihn. Aber insgeheim wusste er, dass Joshs Pick-up nicht auftauchen würde. Seinem Freund war irgend etwas Schreckliches zugestoßen.
Sollte er die Polizei anrufen?
Aber was sollte er ihnen erzählen?
Sollte er die seltsame Geschichte wiedergeben, die Josh ihm erzählt hatte, von dem Feuer auf dem Zuckerrohrfeld, von Jeffs verrücktem Benehmen, von Joshs Flucht? Damit würde er Josh nur noch mehr Ärger machen. Und wenn Jeff Kina irgend etwas in dem Feld passiert wäre, dann hätte man doch bestimmt schon davon gehört. Immerhin hatte er in der Schule die Namen von zwei Männern gehört, die in dem Feuer gestorben waren - Feuerwehrmänner, die beim Einsatz auf tragische Weise ums Leben gekommen waren. Einer davon war der Onkel eines Mitglieds des Laufteams. Aber von Jeff Kina hatte niemand gehört.
Zu Hause angekommen, hatte er bei Josh angerufen, aber ein betrunkener Sam Malani hatte den Hörer abgenommen und krakeelt, dass er seinen Sohn schon zur Räson bringen werde, wenn der endlich nach Hause käme.
Michael hatte nicht wieder angerufen.
Dann, vor einer Stunde, hatte er wieder dieses komische Gefühl gespürt. Es war nicht so schlimm gewesen - nicht halb so schlimm wie damals, als er Asthma hatte -, aber beinahe hätte er seine Mutter angerufen. Er tat es dann doch nicht. Wenn sie ihn nicht gleich ins Krankenhaus brachte - »Vorsicht ist besser als Nachsicht« -, würde sie ihn spätestens morgen früh wieder zu Dr. Jameson schleppen.
Es war besser, wenn er schwieg. Morgen würde es ihm sicher wieder gutgehen.
Er drückte sich tiefer in das Sofa und versuchte sich wieder auf den Film zu konzentrieren.
Denk nicht mehr dran, sagte er sich, denk einfach nicht mehr dran. Mit deiner Lunge ist alles in Ordnung. Josh ist einfach nur sauer, und Jeff Kina hast du ja kaum gekannt.
Aber wie sehr er sich auch einzureden versuchte, dass alles in Ordnung sei, er musste doch immer an das eine Geschehnis denken, das diesem Gedanken so schrecklich widersprach:
Vorgestern nacht war Kioki Santoya gestorben.
Was, wenn auch Jeff und Josh tot waren?
Was dann?
Auf diese Frage wusste er keine Antwort.
Als sich Katharines Augen an die gedämpften Lichter gewöhnt hatten, die nachts Takeo Yoshiharas Anwesen matt beleuchteten, hielt das Fahrzeug soeben vor einer Tür am anderen Gebäudeflügel. Katharine sah, wie der Wachmann, der sonst immer hinter seinem Tisch in der Lobby saß, aus dem Gebäude trat und schnell auf das Fahrzeug zuging, das Katharine mittlerweile als kleinen Lieferwagen identifiziert hatte. Zwei Männer stiegen aus, ein weiterer kam aus dem Gebäude. Zu viert luden sie eine Kiste aus dem Heck des Lieferwagens aus.
Eine Kiste von etwa einem Meter Breite, einem Meter Höhe und zwei Metern Länge.
Unwillkürlich musste Katharine an einen Sarg denken, und auch wenn sie den Gedanken sofort verwarf, ließ er sich doch nicht so leicht abschütteln. In dem Raum neben ihr lag ein Skelett.
Das Skelett eines Wesens, das wie ein Mensch begraben worden war, auch wenn es nicht zur Gattung Homo sapiens gehörte.
Katharine ging den langen Flur von ihrem Büro zur Lobby entlang. Dann zögerte sie.
Was sollte sie tun? Die Tatsache, dass dieser Lieferwagen mitten in der Nacht vorfuhr, ließ darauf schließen, dass man es nicht sehr schätzen würde, wenn sie jetzt einfach hinausging und den Männern einen guten Abend wünschte.
Sie ging langsam zum Tisch des Wachmanns, der wie ein großer hölzerner Quader aussah und bis auf zwei Videomonitore völlig leer war. Vorsichtig umkreiste Katharine den Schreibtisch und glitt schließlich auf den Drehstuhl, der dahinter stand. Sie sah auf die Monitore.
Der linke zeigte das Haupttor des Anwesens. Katharine konnte sich nicht an irgendwelche Scheinwerfer erinnern, dennoch wirkte das Bild auf dem Monitor so hell, als sei es Tag.
Offenbar waren die Sicherheitskameras mit einer lichtverstärkenden Vorrichtung ausgestattet. Die Dunkelheit, in der das Tor lag, täuschte.
Auf dem anderen Bildschirm sah man nur eine Reihe grafisch dargestellter Knöpfe, von denen einige beschriftet waren, andere lediglich Symbole enthielten, und die anzeigten, wie man die Kameras
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