Hauch der Verfuehrung
Compton war seit acht Jahren bei ihm; er war ein Veteran der Napoleonischen Kriege, und inzwischen näherte er sich seiner Lebensmitte. »Ein sehr gut geführtes Unternehmen und ein angenehmer Haushalt.« Compton warf Gerrard einen Blick von der Seite zu. »Wenigstens im Souterrain.«
»Und in den oberen Geschossen«, erklärte Gerrard als Antwort auf die unausgesprochene Frage, »scheint ebenfalls alles recht angenehm zu sein, aber wir sind immer noch beim ersten Eindruck. Wie fügt sich hier eigentlich Cunningham ein, falls Sie das wissen?«
»Er nimmt die Mahlzeiten mit der Familie ein.« Nach einem Augenblick erkundigte sich Compton: »Möchten Sie, dass ich nachfrage?«
»Nein, nicht so direkt; aber bitte berichten Sie mir alles, was Sie über die jüngere Miss Tregonning in Erfahrung bringen - ich muss sie so rasch wie möglich besser kennenlernen.«
»Wird gemacht. Jetzt aber etwas anderes - wird der braune Rock aus dem feinen Bathtuch für heute Abend passend sein, oder möchten Sie lieber Schwarz tragen?«
Gerrard überlegte. »Ja, besser den schwarzen.« Damit überließ er Compton seiner Aufgabe, ihm die Abendkleidung herauszulegen, und kehrte wieder in sein Schlafzimmer zurück. Er durchquerte es und trat an die Flügeltür aus Glas, die auf den Balkon hinausging.
Der halbrunde Balkon spannte sich etwa über die Hälfte des Zimmers. Wegen des seltsamen Grundrisses des Hauses und des vorspringenden Raums nebenan war von hier aus kein anderes Zimmer zu sehen, und gleichzeitig war sein Raum nicht einsehbar. Sowohl sein Schlafzimmer als auch der Balkon waren vor fremden Blicken geschützt und boten zudem einen atemberaubenden Ausblick auf die Gärten.
Gerrard trat hinaus - und war verzaubert.
Selbst in den länger werdenden Schatten der einbrechenden Dämmerung waren die Gärten herrlich - phantastische Formen erhoben sich aus dem Zwielicht, eine Fülle von Märchenlandschaften erstreckten sich über das Tal, eine schloss sich an die andere an, ging in die Nächste über.
Am Horizont schimmerte die See kupfern in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne, verschmolz in blauen, silbern und golden gesprenkelten Schattierungen, die dann zu schillernden Wellen wurden, die sich an den Felsen unten am steinigen Strand der Bucht brachen. Er ließ seinen Blick langsam zum Haus wandern, bemerkte, wie die Gärten nach und nach immer strukturierter wurden, je näher sie am Haus lagen. In den rings um das Gebäude verlaufenden Anlagen sah er einen Garten mit runden Steinen am Rand, einen formalen italienischen Garten etwas näher noch, mit Statuen in einem weiteren Teil und einem Kiefernhain am anderen Ende.
Er konnte das melodische Plätschern von Wasser auf Felsen vernehmen. Er schaute in die Richtung und entdeckte eine Terrasse unter dem Balkon. Die Terrasse lief auf der Talseite um das Herrenhaus, gewährte Ausblick auf die Gärten und auch Zugang zu ihnen; er konnte Stufen sehen, die an verschiedenen Stellen von der Terrasse abgingen. Etwa auf der Mitte des Hauses reichte ein dunklerer Fleck mit dichtem Bewuchs bis an die steinerne Brüstung heran.
Das, vermutete Gerrard mit einem Aufwallen von Befriedigung, musste der berühmte Garten der Nacht sein.
Morgen würde er ihn erkunden. Er versuchte sich auf die Aussicht zu freuen, stellte aber überrascht fest, dass seine Gedanken wanderten, unwiderstehlich angezogen von Jacqueline Tregonning.
Wie sollte er ihr Vertrauen gewinnen, um alles über sie in Erfahrung zu bringen, was er wissen wollte?
Er dachte nach, wie er sich am besten einer jungen Frau nähern könnte, von der er nun wusste, dass sie keineswegs so gewöhnlich war, wie er voreilig angenommen hatte. Er schlenderte zurück ins Zimmer und schloss geistesabwesend hinter sich die Balkontür; die Gärten versanken allmählich in Dunkelheit.
Das Dinner war eine merkwürdige Angelegenheit. Die Speisen waren köstlich, die Unterhaltung bei Tisch hingegen mehr als zurückhaltend. Die Stunde verstrich in eigenartig friedlicher Ruhe, mit langen Pausen, in denen gar nichts geredet wurde, aber seltsamerweise ohne irgendein Unbehagen oder ein Gefühl von Bedrückung. Was nötig war, wurde gesagt, aber niemand verspürte offenbar den Drang, die Lücken zu füllen.
Gerrard war fasziniert. Barnaby und er hatten alles beobachtet; sie hatten versucht, ein Muster im Verhalten ihrer Gastgeber zu entdecken. Sie beide fanden die Tregonnings interessant: Barnaby, weil er wegen seines Interesses an
Weitere Kostenlose Bücher