Hauchnah
wegen dieses Unfalls auf der Autobahn im Stau stecken, und mein Handy-Akku war leer. Als diese Polizistin mir die Tür öffnete, habe ich …“
Natalies Kopf dröhnte; sie drückte die Fingerspitzen an die Schläfen. „Ist schon gut, Melissa, ehrlich.“
„Aber du bist entführt worden. Wegen mir von irgendeinem Spinner gekidnappt.“
Von demselben Spinner, der mich erwürgen wollte. Sie hatte Melissa den Zusammenhang erklärt, doch das war auch alles. Wie von Mac angeordnet, hatte sie nicht erzählt, was der Mann gesagt hatte, ja, nicht einmal, dass sie schließlich aus dem Taxi gesprungen war. „Es ist nicht wegen dir passiert, Melissa. Es war mein eigenes Pech. Erkläre das unbedingt auch Agent McKenzie, wenn er dich befragt. Vergiss nicht, es ist nur eine Sicherheitsmaßnahme. Er muss mit allen sprechen. Du hast nichts Schlimmes getan.“
Als Melissa nichts sagte, runzelte Natalie die Stirn. „Melissa?“
„Ich bin noch da. Sag mal, wieso bist du dauernd so verdammtedel? Wirst du nie wütend? Ich hab’s vergeigt, Natalie. Du hast das Recht, sauer zu sein.“
„Nun, ich bin aber nicht sauer. Ich bin nur müde.“ Sie zwang sich zu einem etwas muntereren Ton. „Danke, dass du heute gekommen bist. Wir unterhalten uns später, okay?“
Sie legte auf, bevor Melissa noch etwas sagen konnte. Mit leichten Gewissensbissen nagte sie an ihrer Unterlippe und überlegte, ob sie ihre Freundin noch einmal anrufen sollte. Trotz ihrer Beteuerungen hatte sie letztendlich doch sauer gewirkt, oder etwa nicht? Aber sie hatte so viel durchgemacht. War es nicht ihr Recht, ein bisschen gereizt zu sein, nach allem, was ihr zugestoßen war?
Außerdem hatte sie noch einiges zu erledigen. Zum Beispiel wollte sie noch einmal die Kopien der Fotos durchsehen, die sie Mac gegeben hatte. Zwanzigmal hatte sie sie wohl schon betrachtet, ohne etwas zu sehen, aber vielleicht …
Als es leise klopfte, hob sie den Kopf.
„Natalie, darf ich hereinkommen?“, fragte Liz.
Natalie war in den Wintergarten gegangen, wo sie diesen katastrophalen Kuss von Mac bekommen hatte, und die Vorstellung, dass Liz an der Stelle stehen würde, bereitete ihr ein komisches Gefühl. Natürlich sagte sie: „Ja, bitte, kommen Sie rein.“
„War das Ihre Freundin Melissa? Die Sie gestern versetzt hat?“
Natalie entging der kritische Unterton der Frau keineswegs. Sie reckte das Kinn vor. „Ja, das war Melissa.“
„Sie haben ihr wiederholt versichert, dass es Ihnen gut geht.“
„Warum auch nicht? Mir geht es gut.“
„Ihnen wird es wieder gut gehen. Erst einmal dürfen Sie aber böse auf sie sein.“
„Ich bin nicht böse auf sie. Jeder macht mal einen Fehler. Melissa hatte sich wegen ihres Freundes verspätet. Sie haben eine komplizierte Beziehung. Und dann hat sie im Stau gesteckt.“
„Trotzdem war es gemein, Sie zu versetzen. Das heißt ja nicht, dass Sie nicht mehr mit ihr befreundet sein können, aber Freundinnen können einander sagen, was sie wirklich empfinden.“
„Was würde es ändern, wenn ich ihr sagen würde, dass es gemein war? Nichts. Außerdem war es meine eigene Schuld. Ich sollte eigentlich wissen, dass ich mich auf niemanden verlassen darf.“
Ihre Worte überraschten sie selbst. Sie hatte das nicht sagen wollen.
„So kann man nicht leben.“
Liz hatte recht. Tief im Inneren wusste sie es. Doch diese Einstellung galt für normale Menschen. Menschen mit unbegrenzten Möglichkeiten, die jede Menge Freunde hatten. Dass diese Frau – diese tüchtige Frau mit uneingeschränkter Sehkraft – sie belehrte, war ihr plötzlich zu viel. Natalie fragte gepresst: „Verlassen Sie sich auf andere, Officer?“
„Aber natürlich. Draußen auf der Straße muss ich mich darauf verlassen, dass meine Kollegen mir Rückendeckung geben.“
„Aber das gehört zu Ihrem Beruf. Das gilt auch im Gegenzug. Die Kollegen müssen sich auch auf Sie verlassen, oder?“
„Genau. Aber was hat das eine mit dem anderen zu tun?“
„Es bedeutet, dass jeder tut, was zum Überleben notwendig ist. Letztendlich tun alle, was für sie das Richtige ist.“
„Polizisten springen jeden Tag für andere in die Bresche.“
„Aus drei sehr wichtigen Gründen.“
„Und zwar?“
„Geld. Nervenkitzel. Und drittens, weil kein Mensch jemals glaubt, es könnte ihn treffen. Wenn Sie es glaubten, wenn Sie wüssten, dass Sie im Dienst erschossen werden, würden Sie sich dann nicht für einen anderen Beruf entscheiden?“
Officer Lafayettes Zögern war
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