Haus der Angst
roch nach Schweiß und Terpentin, und er hatte schon eine ganze Weile geweint. „Ich möchte … ich möchte mit Rob fahren.“
Da liegt also der Hase im Pfeffer, dachte Sebastian. „Warum tust du’s dann nicht? Deine Mutter hat doch nichts dagegen.“
Der Junge weinte noch lauter.
Verdammt, dachte Sebastian. Dieses Mal hätte er lieber nicht Recht gehabt. Er lehnte sich zurück, stützte sich auf seine Ellbogen und schaute auf das Wasser, das in einem stetigen Strom über Felsen und Kies rauschte. „J. T., dein Vater und ich waren Freunde. Wir haben uns nicht so oft gesehen, wie wir gerne gewollt hätten, ehe er gestorben ist. Aber eines weiß ich bestimmt: Er hätte es toll gefunden, wenn du mit jemandem wie Rob zusammen bist.“
„Ich weiß. Aber darum geht es nicht.“
Sebastian war sich im Klaren darüber, dass es nicht darum ging. Ruhig fuhr er fort: „Du wirst ihn nicht vergessen. Du wirst ihn niemals vergessen.“
Laut schluchzend legte J. T. das Gesicht auf die hochgezogenen Knie. Sebastian kannte das Gefühl von endloser Traurigkeit. Als Junge war er selbst hierher gekommen, um zu weinen, wo ihn niemand finden konnte, wo er seinen Kummer vor aller Welt verbergen konnte.
„Wenn ich ihn eines Tages nicht mehr vermisse …“ Er konnte den Satz nicht beenden.
Sebastian zuckte zusammen und verscheuchte einen Moskito, der sich an seinem Unterarm zu schaffen machte. Um Gespräche wie solche schlug er immer einen weiten Bogen. Er wusste nämlich nie, was er sagen sollte. Mit solchen Situationen hatte er selbst auch immer ohne Daisy zurechtkommen müssen.
J. T. Swift war ein sehr nachdenklicher und introvertierter Junge. Für seine zwölf Jahre dachte er sehr viel nach. Als er selbst so alt war, hatte er nicht so viel gegrübelt. Er hatte sich die Seele aus dem Leib geweint und anschließend die trüben Gedanken so weit wie möglich vertrieben.
„Die Zeit heilt alle Wunden“, sagte er hilflos. „Sie sind tief, wenn man einen Vater verliert, und dann brauchen sie etwas länger und hinterlassen eine Narbe. Nach einer Weile spürt man dann auch die Narbe nicht mehr, aber sie erinnert dich immer an das, was du verloren hast. Und daran, wie tapfer du mit diesem Verlust fertig geworden bist.“
Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht tapfer.“
„J. T., ich habe eine Menge durchgemacht. Man hat auf mich geschossen und mich verwundet, ich habe Entführer gejagt, Erpresser, Terroristen und alle möglichen Arten von Schurken und Verbrechern und Verrückten, die du dir nur vorstellen kannst.“ Er machte eine Pause und schien zu überlegen, wie viel er dem Jungen zumuten konnte. Dann fuhr er fort: „Aber ich glaube, das Schlimmste, was ich jemals erlebt habe, war, meine Großmutter weinen zu sehen, nachdem meine Eltern gestorben waren.“
J. T. setzte sich schnüffelnd auf. „Wie sind sie denn gestorben?“
„Vor meinen Augen wurden sie von einem Auto überfahren. Das war verdammt hart, aber Daisys Tränen haben mir den Rest gegeben. Sie haben mich erst daran erinnert, was ich verloren hatte. Mein Großvater kam ums Leben, als sie jung war, und jetzt war ich alles, was sie noch hatte.“
„Was ist denn mit deinem Großvater passiert?“
„Er hieß Joshua“, sagte Sebastian.
„Er wurde wie die Wasserfälle genannt?“
„Nein, die Wasserfälle wurden nach ihm benannt. Er ist hineingesprungen und ertrunken, als er versuchte, einen kleinen Jungen zu retten – den Vater von Rob.“
„Wirklich? Georgie hat mir nie etwas davon erzählt.“
„Vielleicht weiß Georgie es gar nicht. Die Leute in der Gegend sind ziemlich zurückhaltend. Sie reden nicht gerne über diese Dinge, am allerwenigsten mit Kindern. Es war im März; die Schneeschmelze war auf dem Höhepunkt. Das Wasser stand hoch und war sehr kalt. Der Junge ist seinem Hund nachgelaufen und in den Fluss gefallen. Mein Großvater ist ihm hinterhergesprungen und hat ihn gerettet.“
„Meine Mom will nicht, dass wir im Winter zu den Wasserfällen gehen.“
„Und du solltest auf sie hören“, meinte Sebastian.
„Hat deine Großmutter es Robs Vater übel genommen, dass er deinen Großvater umgebracht hat?“ fragte J. T. mit leiser Stimme. Seine Augen waren weit geöffnet und auf sympathische Weise wissbegierig. Er hatte wirklich das Beste von seinen Eltern mitbekommen.
„Er war acht Jahre alt, und er hatte einen schwer wiegenden Fehler begangen. Joshua hatte zwei Möglichkeiten. Er hätte den Jungen ertrinken lassen
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