Haus der Angst
sie.
„Ich habe nie daran gedacht, wegzugehen.“
„Also hast du es nicht gehasst, hier zu leben?“
„Nein, nie.“ Er ließ den Blick über die hohen Gräser und leuchtenden Blumen schweifen, die bewaldeten Hügel, die Apfel- und Ahornbäume und die Eichen. Er hörte das Rauschen des Flusses und den Wind, und ihm fiel wieder ein, dass er einmal geglaubt hatte, an diesem Ort mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Er schüttelte den Kopf. „Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, einmal nicht mehr hier zu sein.“
„Und warum hast du das alles dann verkauft?“
„Die Dinge ändern sich eben.“
Während er das Gemüse wendete, spürte er ihren Blick auf sich ruhen. Vielleicht fragte sie sich gerade, wie er als Junge gewesen war. Das Waisenkind. Daisys Enkel. Ein Jugendlicher, der Verluste erlitten und Tragödien erlebt hatte.
„Was hat sich denn verändert?“ fragte Lucy ruhig.
„Ich.“
Sie schwieg, aber er wusste, dass sie sich mit dieser Antwort nicht zufrieden geben würde. Nicht Lucy. Sie würde weiter bohren und nachhaken und nicht so schnell aufgeben. Das war ihm klar seit dem Tag, als sie seinen besten Freund geheiratet hatte.
Er warf ihr einen Blick zu und trank noch einen Schluck Bier. „Daisy hat hier gelebt. Es war ihr Zuhause. Für mich war es ein Zufluchtsort, ein Platz, um mich zu verstecken. Eines Tages habe ich dann gemerkt, dass man sich nicht ewig verstecken kann.“
„Du hattest das Gefühl, weggehen zu müssen, um Leute zu retten. Deinen Großvater hattest du nicht retten können – er starb, bevor du geboren wurdest. Und deinen Eltern konntest du auch nicht helfen. Du warst nicht bei ihnen.“
Er schaute ihr ins Gesicht. „Das stimmt nicht. Ich war dabei.“
Fast hätte sie ihr Bier vergossen. Sie wurde blass und flüsterte: „Das tut mir Leid. Das habe ich nicht gewusst. Keiner hat jemals etwas davon gesagt. Hat Colin es gewusst?“
„An einem Abend nach dem Attentatsversuch haben wir ein bisschen zu tief ins Glas geschaut, und da habe ich es ihm erzählt.“ Sebastian zuckte mit den Schultern. „Wir waren jung. Danach haben wir nie mehr darüber gesprochen.“
Lucy riss sich zusammen, aber es war offensichtlich, dass seine Bemerkung sie sehr betroffen gemacht hatte. „Es gibt doch nichts Besseres als gemeinsame Abenteuer und Besäufnisse, um zwei Männer zusammenzuschweißen. War Plato auch dabei?“
„Er hat nur Wein getrunken. Merlot. Damit haben wir ihn immer aufgezogen.“
Sie lächelte, und Sebastian erinnerte sich wieder daran, wie sehr sie ihren Mann geliebt und wie sehr Colin sie geliebt hatte. Sie hatte sich verändert und war doch dieselbe geblieben. Seltsam. Man konnte es gar nicht in Worte fassen.
Lucy stellte ihre Bierflasche ins Gras. „Du hast also gesehen, wie deine Eltern getötet wurden, und du bist hierher gekommen, um bei deiner Großmutter zu leben. Und dann bist du wieder gegangen. Du hast einen Job als Sicherheits- und Ermittlungsfachmann angenommen, dein eigenes Geschäft aufgemacht, viel Geld verdient und dich im letzten Jahr zurückgezogen, um deine Tage auf der Hängematte und in einem Schuppen ohne Strom und fließendes Wasser zu verbringen.“
„Mein Leben im Zeitraffer.“
Sie musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Und du willst mit Gewalttätigkeiten nichts mehr zu tun haben.“
„Richtig.“
„Warum?“
„Der Grund ist ein Mann namens Darren Mowery.“
„Den Namen habe ich schon mal gehört. Du hast für ihn gearbeitet, als du Colin kennen lerntest. DM-Beraterfirma. Er war es doch, der dem Präsidenten das Leben gerettet hat?“
„Diesen Darren gibt’s nicht mehr. Er hat sich ziemlich verändert.“
„Erzähl“, forderte Lucy ihn mit ruhiger Stimme auf.
„Da war diese Entführung – das ist jetzt etwa ein Jahr her. Ein Geschäftsmann aus Kolumbien – ein Kunde –, seine Frau und ihre drei Kinder, alle jünger als zehn. Ich habe mich selbst um den Fall gekümmert.“
„Was ist passiert? Die Kinder sind doch nicht …“
Er schüttelte den Kopf. „Sie haben überlebt. Die DM-Beraterfirma war gerade pleite gegangen. Darren hat mich dafür verantwortlich gemacht. Ich wusste, dass er verzweifelt war. Und in Versuchung geraten.“
„Er war an der Entführung beteiligt?“ fragte Lucy.
„Er hat sie mit in die Wege geleitet. Und fast wäre es ihm auch gelungen, mit den dreißig Millionen Dollar abzuhauen.“
Ihre Augen wurden groß. „Lieber Himmel.“
„Es war ein sehr wohlhabender
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